Kostrzyn (MOZ) Einmal im Jahr wird die 20 000-Seelenstadt Kostrzyn zum Schauplatz eines der größten Festivals Europas. Obwohl die „Haltestelle Woodstock" jetzt „Pol'and'Rock-Festival" genannt werden muss - was oft ignoriert wird - hat sie nichts vom ursprünglichen Flair verloren. Auch wenn die nationalkonservative Regierung das gerne so hätte.
Das Festivalgelände ist eine Stadt für sich: vier Hauptbühnen, Freiluftdusche, Fressmeile, Missionare aller Religionen, Menschen vieler Nationen. Die Kostrzyner Luft riecht süßlich, der Bass ist tief, aus einer JBL-Box tönt Janis Joplin - fast wie zu guten alten „Woodstock"-Zeiten. Der Kleidungsstil ist locker-flockig: schlabbrige Hosen, Blumenkränze, Dreadlocks. Von Rastamännern, Punks, Hare-Krishna-Traumtänzern bis zu „normalen" Partygängern ist alles dabei. Auch der Typ, der sich im Einhorn-Strampelanzug durch den Staub kämpft - der Schwimmreifen, in dem er steckt, hilft ihm auch nicht dabei. Es gibt viel nackte Haut. Ob man es sehen will, oder nicht.
Bis Sonntag feiern Hunderttausende in der Grenzstadt Kostrzyn, die einen Mythos weiterleben. Es ist ein bisschen so wie im August 1969, als das Woodstock ein Leben frei von Zwängen und Tabus propagierte.Das Festival wurde zum Mythos, an den die „Haltestelle Woodstock" ab 1995 erinnerte. Auch wenn es jetzt „Pol'And'Rock" heißt, lebt der Mythos weiter.
Wer zur Hauptbühne will, der passiert ein paar Kilometer Zeltlager und - Menschen, Menschen, Menschen. Männer mit freiem Oberkörper, Sonnenbrille und Banditen-Tuch. Frauen ungeschminkt in Schlabberhosen, Bikini, mal mit Blumenkränzen und Herzchen-Sonnenbrille. Beide mit und ohne Dreadlocks, aber gefühlt mehr mit. Und alle wollen zur Bühne. Es wirkt ein bisschen wie ein Schaulaufen, jeder will aussehen wie Bob Marley - manchen gelingt es auch. Aber hier geht es noch um ganz viel anderes.
„Mehr Freiheit als hier gibt es nicht. Du kannst machen, was du willst - es interessiert keinen, aber alle sind füreinander da", philosophiert Matej Martin mit freiem Oberkörper und rotem Stirnband, während er die Slowakei-Flagge hisst. Dann sprechen ihn Slowenen an, sie prosten mit Lech-Bierdosen und kommen ins Schwatzen, kumpelhaft versteht sich, ganz nach dem Festivalmotto „Liebe, Freundschaft und Musik".
Auch wenn es keiner offen ausspricht, ist die polnische Regierung kein Freund dieser Party. Sie stichelt gegen die Veranstalter, „Das große Orchester der Weihnachtshilfe" um den Journalisten um Jurek Owsiak. Obwohl das Festival zu den sichersten in ganz Polen zählt, gilt auch in diesem Jahr ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Trotz einer Vielzahl von freiwilligen Helfern müssen laut Vorschrift auch Profis für Ordnung sorgen, die ihr Geld kosten. Trotz des zunehmenden finanziellen Drucks sträuben sich die Veranstalter des Umsonst-und-Draußen-Festivals, es zu kommerzialisieren.
Zurück auf dem Festival: Als ob ihn keiner sehen könnte, duscht sich ein nackter Mann unter freiem Himmel. „Auf dem Woodstock ist Make-up überflüssig, die Leute fühlen sich frei", sagt Patricia Płócieniak und deutet in Richtung Mann. Sie selbst ist noch geschminkt, ab morgen wird sie es aber sein lassen - die 28-jährige ist erst vor kurzem aus Warschau angekommen.
„Auch wenn es jetzt anders heißt, hat sich nichts am Woodstock-Gefühl geändert", weiß Marta Prudel. Die 49-Jährige mit blonden Haaren ist geballte Woodstock-Erfahrung, war seit 2003 jedes Jahr hier. Man könne sich einfach ins Getümmel stürzen und mit Wildfremden feiern, einige verteilen kostenlose Umarmungen, sagt sie. Das Freiheitsgefühl zeigt sich auch nachts. Ein paar Verrückte schlafen im Motorradbeiwagen, einfach so auf der Isomatte, wenn es sein muss auch auf dem Boden - Zelte sind sowieso überwertet, scheinen sie zu denken.
„Es ist mein Zuhause", sagt Jakub Kluszinky sentimental. Sein Einhorn-Strampelanzug sieht im Morgengrauen so aus, als hätte er sich stundenlang im Dreck gewälzt. Zum Glück ist der Rettungsring noch heil. Er stürzt sich ins nächste Konzert. Das Einhorn scheint das Prinzip Woodstock verstanden zu haben.