Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes "Alles gut?" aus unserem Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.
Am Morgen hatte Georg Schomerus noch Visite. Einmal die Woche geht er auf allen Stationen vorbei und spricht mit den Patienten. Er wolle das so, sagt er, so verliere man nicht den Kontakt. Jetzt sitzt er in seinem Büro in der obersten Etage des Instituts für Psychiatrie und Psychotherapie der Leipziger Uniklinik. Seit 2019 leitet er die Klinik.
Georg Schomerus ist Sozialpsychiater. Seit den Siebzigerjahren fragt ein Forschungsteam, das er inzwischen leitet, die Bevölkerung Dinge wie: Würden Sie einer Depressiven eine Wohnung vermieten? Würden Sie einen Schizophrenen für einen Job empfehlen? Georg Schomerus und sein Team wollen herausfinden: Wie nah lässt die Gesellschaft psychisch Erkrankte an sich heran? Fast drei Stunden dauert das Gespräch in seinem Büro mit Blick auf eine strahlend weiße, mit Gold verzierte orthodoxe Kirche. Hinter ihm auf seinem Schreibtisch stehen Fotos seiner Kinder, an der Garderobe neben der Bürotür hängt ein Fahrradhelm.
ZEIT ONLINE: Herr Schomerus, Würden Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen sagen, wenn Sie eine psychische Krankheit hätten?
Georg Schomerus: Ja. Allein schon, weil ich von Berufswegen weiß, wie häufig psychische Krankheiten sind. Es gibt keine Familie, in der es keine psychischen Krankheiten gibt.
ZEIT ONLINE: Psychische Gesundheit ist spätestens seit der Pandemie zum Dauerthema geworden. Jeder scheint irgendetwas zu haben. Wird die Gesellschaft kränker oder geht sie einfach nur offener mit dem Thema um?
Schomerus: Die Häufigkeit psychiatrischer Diagnosen ist über die Jahre nahezu gleich geblieben. Die Betroffenheit hat sich allerdings leicht verschoben: Wir sehen, dass junge Frauen heute häufiger erkranken, während die Belastung bei älteren Frauen abgenommen hat.
ZEIT ONLINE: Es trifft also beides zu: Junge Leute gehen offener mit ihren Krankheiten um und sie sind zugleich stärker betroffen. Schomerus: Nicht generell, aber wenn man zum Beispiel auf Instagram oder Twitter unterwegs ist, trifft man schon auf sehr große Offenheit.
ZEIT ONLINE: Psychologische Begriffe haben mittlerweile einen festen Platz in unserer Alltagssprache: Trauma, Trigger, toxische Beziehungen und toxische Männlichkeit, toxische Positivität. Banalisiert so etwas psychische Krankheiten?
Schomerus: Ich kann niemandem sein Empfinden absprechen. Doch hinter dieser Entwicklung steht am Ende eine größere Frage: Wie verteilen wir die Ressourcen im Gesundheitswesen? Wer kriegt eine Psychotherapie und wer nicht? Im Sinne der öffentlichen Gesundheit sollten jene Menschen Zugang zu Ressourcen erhalten, denen es am schlechtesten geht. Und da besteht die Gefahr eines Ungleichgewichts. Wenn immer mehr Leute merken, dass es ihnen nicht gut geht und sie eine Therapie brauchen, kann das dazu führen, dass Menschen, die ohnehin fernab der Versorgungssysteme sind, noch schwieriger Hilfe bekommen.
ZEIT ONLINE: An wen denken Sie da?
Schomerus: An eine breite Koalition von prekär Arbeitenden, Migrantinnen, Menschen mit geringerem Bildungsabschluss. Aber auch die große Gruppe der Männer sucht sich seltener Hilfe. Man muss sich immer überlegen, ob es richtig ist, etwas zur Krankheit zu erklären und dann über die Krankenkassen zu therapieren.
ZEIT ONLINE: Sind also akademische, weiße Frauen psychologisch überversorgt?
Schomerus: Jeder, der sich Hilfe sucht, braucht Hilfe. Aber vielleicht benötigt nicht jeder eine Psychotherapie. In den letzten Jahren sind viele Systeme verschwunden, die uns sonst in Lebenskrisen aufgefangen hätten. Wer ist etwa noch fest in der Kirche verankert? Auch soziale Beziehungen sind häufig nicht mehr so eng, dass man gemeinsam Krisen durchsteht. Stattdessen werden Krisen heute eher psychologisiert. Das heißt nicht, dass die Probleme nicht schlimm sind. Aber man muss sich immer überlegen, ob es richtig ist, etwas zur Krankheit zu erklären und dann über die Krankenkassen zu therapieren.
ZEIT ONLINE: Auf der anderen Seite werden dadurch Therapien normaler und alltäglicher. Hilft das nicht auch den Betroffenen?
Schomerus: In Milieus jenseits der bürgerlichen Mitte ist es noch sehr schwer, über das eigene Erleben zu sprechen. Weil da auch die fancy Narrative nicht so richtig greifen. Jemand, der die ganze Woche auf Montage ist und seine Familie nur am Wochenende sieht und dem es dann nicht gut geht, dem fehlen dann vielleicht die Worte. Modebegriffe wie Burn-out, Trigger oder auch Trauma - was in einem Kontext gut passt, passt woanders wieder nicht.
ZEIT ONLINE: Ist die Bereitschaft, sich auch bei seelischen Krankheiten Hilfe zu suchen, in den vergangenen Jahren gestiegen?
Schomerus: Kaum. Frauen holen sich etwas häufiger Hilfe als noch 1998, Männer nur minimal. Die Hälfte aller psychiatrischen Krankheiten bleibt immer noch unbehandelt.
ZEIT ONLINE: Sie untersuchen seit zwei Jahrzehnten, wie Menschen über psychische Krankheiten denken. Dabei fragen Sie auch, für welche Krankheiten die Gelder für die Behandlung auf keinen Fall gestrichen werden sollen. Was sehen Sie in diesen Untersuchungen?
Schomerus: Als wir das erste Mal im Jahr 2001 fragten, war vielen Menschen die Krebsbehandlung am wichtigsten. Gefolgt von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie dem Herzinfarkt, Aids und Diabetes. 2011 war es fast gleich, nur die Depression war vielen wichtiger geworden, sie lag sogar knapp vor Rheuma. Die meisten Menschen hätten aber weiterhin am ehesten bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie und Alkoholabhängigkeit eingespart.
ZEIT ONLINE: Im vergangenen Sommer, zwischen dem ersten und zweiten Lockdown, haben Sie die Befragung erneut wiederholt.
Schomerus: Ja. Heute ist die Depression für jeden Vierten eine der drei wichtigsten Krankheiten, 2001 sagte das nicht einmal jeder Zehnte. Die Depression steht jetzt an vierter Stelle, sogar vor Alzheimer. Wichtiger sind nur noch Diabetes, Herzinfarkte und Krebs, also wirklich große Volkskrankheiten. Dagegen steht die Schizophrenie immer noch an vorletzter Stelle. Nur die Alkoholabhängigkeit ist noch unbeliebter.
ZEIT ONLINE: Warum hat sich der Blick auf Depressionen und Schizophrenie in den letzten 20 Jahre so unterschiedlich entwickelt?
Schomerus: Die Reaktionen auf Menschen mit Schizophrenie, auf ihr verstörendes, befremdliches, nicht erklärbares Verhalten, haben sich verändert. Wir sind dem gegenüber skeptischer geworden, anders als bei Depressionen. Das melancholische, zurückgezogene, depressive Verhalten ist uns näher gerückt, während uns das psychotische Verhalten eher fremder geworden ist. ......
Zum Original