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Ägypten unter al-Sisi: „Das paranoideste Regime, das das Land je erlebt hat"

Berlin. Am schlimmsten Tag seines Lebens ist Hossam El-Hamalawy auf dem Flughafen Kairo-International. Unerwartet übersteht er die Passkontrolle, bleibt stehen und bricht in Tränen aus. Es ist Oktober 2015 und der Ägypter weiß: Es ist vielleicht das letzte Mal, dass er sein Heimatland sehen kann. Nichts hat er je als einschneidender empfunden. Nicht den Tod seines Vaters, nicht die drei Festnahmen, nicht die Folter, die ihm der ägyptische Inlandsgeheimdienst antat.

So erzählt es der 43-Jährige in einem Café in Berlin, ebenfalls an einem Tag im Oktober, rund fünf Jahre nachdem er das Land verlassen hat. Zu bleiben, sagt er heute, war für ihn damals keine Option mehr. „Ich wusste, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich holen." Mit „sie" meint er den ägyptischen Sicherheitsapparat.

Als Journalist und Kritiker des Militärregimes um Präsident und Ex-General Abdel Fattah al-Sisi war El-Hamalawy in seinem Land akut gefährdet. Ihm drohte damals, was für Tausende Realität ist: Politische Gefangenschaft. Bald zehn Jahre nach der Revolution und dem Sturz des langjährigen Machthabers Hosni Mubarak hat sich die Menschenrechtslage in Ägypten massiv verschärft. Human Rights Watch sprach bereits 2016 von 60.000 Menschen, die al-Sisi seit dem Militärputsch 2013 und seiner Machtübernahme verfolgen und einsperren ließ. Inzwischen dürften es eher 70.000 sein, genau lässt sich das schwer sagen.

„Wer in Ägypten Kritik am Regime übt, der begibt sich in Lebensgefahr"

Aus Sorge um die politische Lage riefen kürzlich fast 280 westliche Parlamentarier al-Sisi in Briefen dazu auf, Menschenrechte zu wahren und politische Gefangene freizulassen. Denn in Zeiten der Corona-Pandemie hat sich die Situation noch einmal zugespitzt. Bürger würden ohne Anklage und Verfahren eingesperrt und fälschlicherweise als Bedrohung für die nationale Sicherheit eingestuft, heißt es in einem der Schreiben. Mitten in der Pandemie sind die Gefängnisse überfüllt.

Eine der Unterzeichnerinnen ist FDP-Politikerin Gyde Jensen. Die Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Bundestag ist beunruhigt. „Wer in Ägypten Kritik am Regime übt, der begibt sich in Lebensgefahr", sagt sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Verfolgte seien in den vergangenen Wochen hingerichtet worden. Oder „siechen unter vollkommen menschenunwürdigen Bedingungen in Gefängnissen dahin". Rechtsstaatliche Verfahren gebe es für Kritiker nicht. Folter sei an der Tagesordnung.

Gekidnappt und gefoltert

Wie die aussehen kann, weiß El-Hamalawy aus eigener Erfahrung - noch unter Ex-Präsident Mubarak. Im Jahr 2000 - es ist der 8. Oktober, seit Tagen gibt es Proteste gegen das Regime - sitzt El-Hamalawy im Auto in Kairo, als er plötzlich gestoppt wird. Männer bedrohen ihn mit Waffen, zwingen ihn auszusteigen und ziehen ihm seinen „Palästinenserschal" über den Kopf. Sie kidnappen ihn und bringen ihn zum Hauptgebäude der Staatssicherheit (SSIS), des 2011 aufgelösten Inlandsgeheimdienstes, der als „Nationale Sicherheit" neu gegründet wurde und offiziell für Terrorabwehr zuständig ist.

„Ich wurde komplett entblößt, konnte nichts sehen und meine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Stunde um Stunde verhörten sie mich", erzählt er. Sie wollen wissen, wer ihm Befehle gebe. Doch solche hatte El-Hamalawy nicht bekommen. Er war gegen das Regime auf die Straße gegangen.

Der Journalist weigert sich, etwas anderes zu sagen als das, was in seinem Ausweis steht. Während er am Boden liegt, treten und schlagen sie immer wieder auf ihn ein, malträtieren seinen ganzen Körper. Sie drohen ihm mit drastischen Worten: „Wir vergewaltigen dich, du Mutterf*cker, wir bringen deine ganze Familie um".

Eine ganze Nacht lang halten sie ihn wach und quälen ihn. Irgendwann, erzählt El-Hamalawy, fühlte er keinen Schmerz mehr. Wahrscheinlich hätten sie ihn in Brand stecken können, er hätte es nicht mehr gespürt, sagt er. Am nächsten Tag wird er dem Staatsanwalt vorgeführt. Er hat Glück. Er kommt frei.

Schlimmer als vor der Revolution

Dreimal wird er während der Herrschaft von Mubarak festgenommen. Doch anders als viele Häftlinge heute musste er die Folter nicht Monate, sondern nur einen Tag lang über sich ergehen lassen. El-Hamalawy ist sich sicher: Unter al-Sisi ist die Lage schlimmer als vor der Revolution.

Seiner Arbeit als Journalist und Blogger etwa könnte El-Hamalawy in Ägypten inzwischen kaum mehr nachgehen. Laut Reporter ohne Grenzen (RoG) hat die Regierung seit 2017 500 Webseiten blockieren lassen. Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von RoG landete Ägypten 2020 auf Platz 166 - von 180 insgesamt. Und unabhängige Medien gibt es fast nicht mehr.

Unter Mubarak, sagt E-Hamalawy, wusste man, wo die roten Linien sind. „Beim al-Sisi-Regime muss man hingegen mit allem rechnen." Auch vor Sippenhaft schrecken die Behörden dabei nicht zurück. Bereits mehr als ein Jahr nachdem El-Hamalawy das Land verlassen hatte, nahm die Polizei seine Frau fest, erzählt er.

Sie verhörten sie und versuchten, herauszukriegen, wo ihr Mann sich aufhält. Sie drohten ihr, sie zu misshandeln und vergewaltigen, wenn sie nicht rede. Kurz nach dem Verhör bekommt sie einen Ausweisungsbefehl. Sie sei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Sie solle das Land entweder Richtung Malaysia verlassen, wo sie als Palästinenserin vorübergehend ein Visum erhält, oder sie komme ins Gefängnis. Einige Tage später sitzt sie im Flieger, in Katar treffen sie und ihr Mann sich wieder.

Seit 2017 gilt Ausnahmezustand in Ägypten

Seit 2017 gilt landesweit Ausnahmezustand. Der erlaube es, weite Teile der Verfassung auszuhebeln, erklärt Politikwissenschaftler Thomas Demmelhuber, der an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrt. „Das Militärregime kennt nur die Unterscheidung zwischen ‚für' oder ‚gegen' es." Wer kein Fürsprecher sei, werde schnell zum Staatsfeind und sehe sich systematischer Repression ausgesetzt, sagt der Professor für Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens. „Das ist in der Tat eine massive Zuspitzung der Situation im Vergleich zu den letzten Regierungsjahren unter Mubarak, als es innerhalb eng definierter Grenzen eine Art kontrollierten Pluralismus gab."

Mittlerweile reichen schon minimal kritische Posts in sozialen Medien, um festgenommen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt zu werden. Im Fall des Menschenrechtlers Bahai al-Din Hassan etwa sind es 15 Jahre. Er hatte die Folterpraktiken in Ägypten kritisiert und mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte moniert.

Das Mubarak-Regime dagegen hatte die Bedeutung des Web 2.0 noch unterschätzt, sagt Demmelhuber. Einer der Gründe, warum es 2011 zur Revolution kam. Über Plattformen wie Facebook konnten sich Demonstranten vernetzen und die Proteste sichtbar machen.

„Jede Form der Opposition wird mit Terrorismus gleichgesetzt"

Aber, sagt Demmelhuber, autokratische Regime lernen voneinander. Die al-Sisi-Regierung habe massiv aufgerüstet: Von der Überwachung des Internets mit einer Art Frühwarnsystem für soziale Netzwerke bis hin zu einer dortigen Selbstinszenierung. Dazu hat es mehrere Gesetzesinitiativen gegeben, „die formal darauf abzielen, die Verbreitung von Fehlinformationen und Internetkriminalität zu bekämpfen, letztlich aber so vage formuliert sind, dass sie gegen jeden politisch Andersdenkenden eingesetzt werden können".

Mittlerweile, konstatiert Human Rights Watch, wird jede Form der Opposition mit Terrorismus gleichgesetzt. „Es ist das paranoideste Regime, das das Land je erlebt hat", sagt El-Hamalawy.

Ägypten weist derlei Kritik regelmäßig zurück. Immer wieder verweist die Regierung auf die erhöhte Terrorgefahr im Land und die Lage in einer unruhigen Region. Der Blick auf Ägypten aus europäischer Perspektive sei „unfair", beklagte al-Sisi 2019.

Jensen fordert Debatte über Rüstungsexporte nach Ägypten

Unterstützung bekommt Ägypten dennoch aus Europa. Auch die Bundesregierung pflegt traditionell gute politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Ägypten. Die Militärdiktatur gehöre zu den Ländern, gegenüber denen die Bundesregierung die verheerende Menschenrechtslage regelmäßig nur pflichtschuldig in Standardphrasen anspreche, sagt FDP-Politikerin Jensen. Diese Routine sei vollkommen unangemessen. Sie fordert eine entschiedene Ansage von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD).

Und auch bei einem weiteren Punkt sieht sie Nachholbedarf. Es sei überfällig, „dass wir über deutsche Rüstungsexporte nach Ägypten eine offene Debatte führen." Mit einem Exportvolumen von knapp 586 Millionen Euro ist das Land dieses Jahr bislang Hauptempfänger deutscher Kriegswaffen. Und gerade wurde bekannt, dass auch noch zehn Patrouillenboote hinzukommen. Die auf der Peene-Werft in Wolgast gebauten Schiffe waren eigentlich für Saudi-Arabien bestimmt, durften aber - auch wegen der Menschenrechtslage - nicht geliefert werden. Nun gehen die Schiffe nach Ägypten. Ausgerechnet.

„Wir freuen uns, mit der ägyptischen Marine einen Vertrag über die Lieferung der zehn am Lürssen-Standort Wolgast gefertigten Küstenwachboote abgeschlossen zu haben", sagte ein Sprecher der Lürssen-Gruppe, zu der die Peene-Werft gehört, dem RND. Die Boote seien für Aufgaben des ägyptischen Küstenschutzes konzipiert. Mehr sagt er nicht - Vertraulichkeit.

Dabei könnte die Bundesregierung solche Rüstungsexporte als Druckmittel einsetzen. Das rät auch Jensen dem Auswärtigen Amt. Sie fordert zudem transparente und nachvollziehbare Leitlinien - am besten einheitlich auf EU-Ebene. Etwa, indem zwischen Waffen differenziert werde, die auch gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden können, und Gütern wie Kriegsschiffen, die vor allem der Abschreckung oder Verteidigung dienen.

„Unser Ziel und Anspruch muss als Bundesrepublik sein: Wer schwerste Menschenrechtsverletzungen begeht und Völkerrecht bricht, dem darf Deutschland dafür nicht das Werkzeug liefern", sagt sie. Wichtig seien dabei nur enge Abstimmungen mit den Nato-Partnern.

Auch Demmelhuber hält es für nötig, die Lieferung von Rüstungsgütern an klare Bedingungen zu knüpfen.

El-Hamalawy formuliert es deutlicher: „Bewaffnet nicht dieses Regime! Al-Sisi wäre nicht in der Lage gewesen zu tun, was er getan hat, ohne die Unterstützung von Deutschland. Die Bundesrepublik ist mitverantwortlich für das, was in Ägypten geschieht."

Ägyptisches Regime reagiert empfindlich

Doch spricht die deutsche Politik die Lage dort an, reagiert das Regime empfindlich. Ende Juli habe sie öffentlich die Verurteilung einer Gruppe von Bloggerinnen kritisiert, sagt Bärbel Kofler (SPD), die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Daraufhin habe es eine „heftige Reaktion des ägyptischen Richterbundes" gegeben, „die sich Einmischung verbaten".

Auch für sie, die die Briefe an al-Sisi ebenfalls mitgezeichnet hat, sei deshalb klar, dass bei den wirtschaftlichen Beziehungen die Wahrung der Menschenrechte eine übergeordnete Rolle spielen müsse. „Das gilt insbesondere für die Rüstungsexporte", sagt sie. Aus ihrer Sicht sollten die Verbindlichkeit der bestehenden EU-Rüstungsexportvereinbarungen deutlich erhöht und Regelungslücken geschlossen werden. „Dazu gehört auch, bestehende Rüstungsvorhaben, gerade auch mit Drittstaaten, auf den Prüfstand zu stellen", so Kofler.

Asylentscheid, der Fragen aufwirft

Aber nicht nur die Rüstungsexporte an Ägypten werfen Fragen auf, sondern auch Asylentscheide wie im Fall von Mahmoud Hegazy, dessen Name eigentlich anders ist, hier aber aus Sicherheitsgründen so lautet.

Der ägyptische Staatsbürger war 2013 nach Deutschland gekommen. Während der Revolution hatte er an Demonstrationen teilgenommen und später, an der Uni, den Vortrag eines Militärangehörigen mit blockiert. Daraufhin bekam er Probleme. Plötzlich fiel er durch alle Prüfungen. Kaum später wurde er suspendiert.

2018 stellte er einen Asylantrag, doch das BAMF lehnte ihn ab. Hegazy hat geklagt, eine endgültige Entscheidung steht noch aus.

BAMF lehnt Asyl ab - keine „exponierte Rolle" während der Revolution

Das BAMF argumentiert, es sei nicht anzunehmen, dass der ägyptische Staat aktuell noch ein Interesse daran habe, Hegazy zu verfolgen. Auch weil er während der Teilnahmen an Demonstrationen und Streiks zwischen 2011 und 2013 „keine exponierte Stellung innehatte und nicht Teil einer großen Menschenmenge gewesen ist". So geht es aus dem negativen Asylbescheid hervor. Zudem habe 2014 ein Regierungswechsel stattgefunden, heißt es weiter. Weder sei er verhaftet noch vorgeladen oder angeklagt worden. Das BAMF kommt daher zu dem Schluss: „Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass bei Rückkehr in das Herkunftsland tatsächlich Repressalien zu befürchten sind."

Die Schutzanerkennungsquote für ägyptische Asylbewerber in Deutschland lag in diesem Jahr bis September bei 17,2 Prozent, teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem RND auf Anfrage mit. 82,8 Prozent der Asylanträge von ägyptischen Staatsbürgern wurden also abgelehnt. 2019 waren es 85,6 Prozent, 2018 87,4.

El-Hamalawy, den Journalisten, überraschen Entscheide wie im Fall von Hegazy nicht. Seine Sicht könnte gleichwohl kaum verschiedener sein. „Jeder, der auch nur im Entferntesten in die Revolutionsbewegung involviert war, ist in Gefahr." Und auch Politikwissenschaftler Demmelhuber glaubt, dass Hegazy bei einer Rückkehr gefährdet wäre.

Von politischem Aufbruch keine Spur

Knapp zehn Jahre nach der Revolution ist der Geist von einst in weite Ferne gerückt. Ägypten steht nicht gerade vor einem politischen Aufbruch. Zu repressiv ist die Lage, sagt Demmelhuber. Und doch könne sich kein Regime auf Dauer nur auf Repression verlassen. Es brauche immer auch ein Minimum an Legitimität und müsse „liefern". Etwa, indem es Arbeitsplätze durch ökonomisches Wachstum schafft. Davon ist Ägypten allerdings weit entfernt. Die makroökonomischen Zahlen sind nicht zuletzt wegen des darniederliegenden Tourismusgeschäfts in der Corona-Krise verheerend, sagt Demmelhuber.

Das weiß auch El-Hamalawy. Die Hoffnung auf einen Systemumbruch hat er deshalb nicht aufgegeben. Und schon gar nicht den Kampf. Auch wenn er ihn seit seinem bitteren Abschied aus Ägypten von anderswo ausfechten muss. Inzwischen schreibt er in Berlin an seiner Dissertation. Es geht um Ägyptens Kriege gegen den Terror. Und um das Narrativ des Regimes. Das, sagt El-Hamalawy, beruhe darauf, sich als einzigen Beschützer des ägyptischen Volkes darzustellen - im Angesicht von Terrorismus und ausländischen Verschwörungen. El-Hamalawy will dieses Narrativ zerstören.


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