Christina Schott

Journalistin, Südostasien-Analystin, Berlin

1 Abo und 6 Abonnenten
Reportage

Die Arche der Affen

Greenpeace Magazin 2/2008 –

Bella ist acht Jahre alt, hat tiefdunkle Augen, rotbraunes, zerzaustes Haar und verhält sich so genant-provokant, wie es nur kleine Mädchen können. Doch als sie die Stimme von Willie Smits hört, lässt das Orang-Utan-Fräulein sofort alles Geziere. „Bella, mein Schatz, wie geht es Dir? Ich habe Dich vermisst!“ säuselt der Holländer und lässt sich von ihr am Kopf kraulen. Die restliche Unterhaltung verläuft in einer Sprache aus kehligen Lauten und Fieptönen. „Sie sagt, sie habe mich auch vermisst“, übersetzt Smits strahlend. 

Doch kurz darauf schimmern Tränen hinter seinen Brillengläsern, als er von Bellas Schicksal berichtet. Mit einem Kommando der indonesischen Polizei fand er sie völlig verängstigt auf dem Boot eines arabischen Geschäftsmanns, der sie außer Landes schmuggeln und vermutlich in seinem Privatzoo ausstellen wollte. „Für jeden kleinen Orang-Utan, den sich irgendwer in seinen Garten setzen will, sterben mindestens drei weitere Affen. Meist müssen die Kleinen dabei zusehen, wie ihre Mutter ermordet wird, oft werden sie verletzt oder traumatisiert“, wettert Smits, der seine Gefühle kaum verbergen kann. Die ganze 17-stündige Fahrt quer durch Kalimantan, dem indonesischen Teil der Insel Borneo, klammerte sich das verwaiste Affenkind verzweifelt an den großen, kräftigen Mann. 

Seit mehr als 17 Jahren kämpft der Gründer der Borneo Orang Utan Survival Foundation (BOS) für das Überleben der Waldmenschen – so die Übersetzung des malaiischen Worts. Rund 400 misshandelte, traumatisierte Affen hat der 51-Jährige Tierschützer bereits selbst gerettet, darunter Babys, denen die Hand abgehackt wurde, weil sie den Leichnam ihrer Mutter nicht loslassen wollten, und Affenmädchen, die mit lackierten Fingernägeln und am ganzen Körper rasiert in Bordellen anschaffen mussten. Mit mehr als 900 Orang-Utans quellen die beiden BOS-Rehabilitationszentren Nyaru Menteng und Samboja im Zentrum und Osten Kalimantans mittlerweile über. „Viele sind schon seit Jahren hier und längst für die Auswilderung bereit. Doch es gibt kaum noch Wälder, in denen wir sie gefahrlos frei lassen können“, seufzt Smits.

Alle zwanzig Minuten verschwinden auf Borneo Waldflächen in der Größe eines Fußballfelds – sei es durch Buschfeuer oder Rodungen, illegal oder ganz offiziell für den Anbau von Palmöl. Die steigende Nachfrage nach Edelhölzern und Biodiesel aus Europa, den USA und China heizt die Zerstörung weiter an: Nach einer neuen Studie der Vereinten Nationen wird es auf der drittgrößten Insel der Welt vermutlich schon in zehn Jahren keine Flachlandregenwälder mehr geben, in denen die intelligenten Primaten leben können. Wegen der rasanten Waldzerstörung weichen viele Tiere halb verhungert auf die expandierenden Plantagen aus und werden getötet oder gefangen. 15 Euro bringt ein kleiner Orang-Utan seinem Häscher ein, für viele Indonesier ein halber Monatsverdienst. Auf dem europäischen Schwarzmarkt kostet er dann rund 50.000 Euro. Doch ob im Garten eines indonesischen Generals oder auf der Terrasse eines französischen Gutsbesitzers: Die Privathaltung von Orang-Utans ist weltweit verboten. Während einst Millionen Waldmenschen ganz Südostasien bevölkerten, leben nach neuesten Schätzungen heute nur noch 45.000 auf Borneo und der Nachbarinsel Sumatra. 

Als Willie Smits 1980 zum ersten Mal nach Indonesien kam, hatte er keine Ahnung von Orang-Utans. Der Forstwissenschaftler interessierte sich vielmehr für den tropischen Regenwald und wie man wertvolle Edelhölzer auch im Gewächshaus zum Wachsen bringen könnte. „Ich wollte an einem Ort forschen, wo vor mir noch kein anderer war – und es sollte eine möglichst große Herausforderung sein“, erzählt er. „Also schickten sie mich nach Ostkalimantan. Ich verbrachte viele Monate bei den Dayak, den Ureinwohnern Borneos. Von ihnen lernte ich viel über das Leben im Dschungel. Sie gaben mir den Namen Sinam, der Mutige.“ 

Aufgrund seiner erfolgreichen Forschung lud die indonesische Regierung den Bauernsohn ein, seine Arbeit vor Ort fortzuführen. Der abenteuerlustige Holländer nahm an und blieb. Noch im gleichen Jahr heiratete er seine Frau Syennie, heute die gewählte Königin des Tomohon-Volks in der Provinz Nordsulawesi. 1989 arbeitete Smits als Leiter des Forschungsprojekts Tropenbos (niederländisch: bos = Wald) in Wanariset bei Balikpapan. Hier, auf einem Markt, entdeckte er Uce. Tierhändler hatten das anderthalbjährige Orang-Utan-Kind einfach auf einem Müllhaufen geworfen, weil sich kein Käufer fand. Smits nahm das halbtote Wesen mit nach Hause und päppelte es auf. Kaum hatte sich die Rettungsaktion herumgesprochen, vertrauten ihm Forstbeamte ein zweites, krankes Affenbaby an, Dodoy. „Unsere ersten beiden Söhne waren damals kaum älter als die beiden Orang-Utans. Für mich war da kein großer Unterschied: Sie hatten sehr ähnliche Bedürfnisse und ich lernte von allen vier sehr viel über Körpersprache“, erzählt der dreifache Vater. 

Die Probleme begannen, als er den Affen die Freiheit zurückgeben wollte. Keiner der Nationalparks erfüllte die Standards für eine Wiederauswilderung, nach denen keine menschlichen Krankheiten wie Hepatitis oder Tuberkulose in die Wildnis eingeführt werden dürfen. Auch Tropenbos nahm sich der Orang Utans erst an, als Smits beweisen konnte, dass mit dem Affenkot Baumsamen im Regenwald verbreitet werden. Geld gab es jedoch nicht für das Projekt. „Also bin ich mit Uce und Dodoy zur Internationalen Schule in Balikpapan gegangen und habe die Kinder dort um Hilfe gebeten. Die waren Feuer und Flamme. Mit Kuchenverkauf, Lesewettbewerben und Briefaktionen haben sie in nur einer Woche 10.000 US-Dollar gesammelt. Das war der Anfang von BOS.“

Seitdem blieb dem dunkellockigen „Bapak Orang Utan“ – Vater der Waldmenschen, wie ihn die Einheimischen nennen – nicht mehr viel Zeit für seine eigene Familie. Nach der Gründung 1991 wuchs BOS schneller als geplant: Mit jedem Waldbrand, jeder neuen Plantage kamen mehr Orang-Utans ins Auffanglager. Hier lernen die Flüchtlinge in einer Art Affenschule, was ihnen ihre Mütter nicht mehr beibringen konnten. Mindestens hundert verschiedene Futterpflanzen müssen sie kennen, bevor sie in die Freiheit entlassen werden, und sie müssen wissen, wie man sich aus Zweigen und Blättern ein Nest in den Bäumen baut. Jeder Orang-Utan lebt mindestens drei Jahre im Camp, was die Stiftung rund 4.500 Dollar kostet. Manche sind jedoch so krank oder verkrüppelt, dass sie nie wieder in der Wildnis leben können. 

Schon bald wurden aus einem Rehabilitationszentrum zwei, dazu kamen 18 Tierrettungsstationen. Mit 438 Mitarbeitern und bislang fast 1.500 geretteten Affen ist BOS heute die größte Primaten-Rettungsorganisation der Welt. „Eigentlich sollten unsere Rehabilitationszentren eine Übergangslösung sein, um die Orang-Utans wieder fit zu machen für ein Leben im Wald. 500 konnten wir bis heute auch wieder frei lassen. Aber es sieht mehr und mehr danach aus, als sei das hier die Zukunft“, sagt Willie Smits, mit einem nachdenklichen Blick auf ein paar große Käfige mit Neuankömmlingen.

Während Uce und Dodoy schon seit 15 Jahren frei im Nationalpark Sungai Wain leben, heißt Bellas Zukunft wohl Samboja Lestari (indonesisch: lestari = ewig). Das beispiellose Wiederaufforstungsprojekt im Osten Kalimantans ist die bislang größte Herausforderung des 51-jährigen Forschers, den die niederländische Königin sogar zum Ritter geschlagen hat: 1.800 Hektar abgebranntes Grasland will er in Regenwald zurückverwandeln, der nicht nur Orang-Utans und anderen bedrohten Tierarten eine Zuflucht bieten, sondern Lebensgrundlage, Wasserreservoir und Klimaregulator für die ganze Gegend sein soll. 

„Wir sitzen hier in einer Art Arche Noah“, erklärt der rastlose Visionär. Von der Terrasse der nagelneuen Samboja Eco Lodge schweift sein Blick über ein dicht bewachsenes Tal zur „Kommandozentrale“ auf dem Hügel gegenüber: ein modernes Bürogebäude, das mit seinem Feuer-Wachturm neben einem großen Wasserbassin an ein Schiff erinnert. „Vor sieben Jahren noch war Samboja eine biologische Wüste. Es gab keine Bäume, keine Tiere, nicht einmal Geräusche – nur Alang-Alang-Gras auf ausgelaugter Erde. Je nach Jahreszeit herrschten Dürren oder Überschwemmungen, die Hälfte der Bevölkerung waren arbeitslos“, beschreibt Willie Smits die Situation, bevor BOS 2001 anfing, das ungenutzte Land für seine Orang Utans aufzukaufen. 

Kaum vorstellbar für die Besucher des neu eröffneten Ökohotels, das vom Wald bereits fast verschluckt wird. Vögel singen, Schmetterlinge flattern um bunte Blüten und nachts trinken Wildschweine und Zwerghirsche an der Quelle, die vor dem baumhausähnlichen Gebäude plätschert. Smits und seine Leute verbesserten zunächst durch den Anbau robuster Pflanzen die Bodenqualität, um dann Teak, Meranti und andere Edelhölzer anzupflanzen. Zugleich können die Bewohner der umliegenden Dörfer in bestimmten Gebieten unter den Bäumen Nutzpflanzen kultivieren, viele fanden neue Jobs als Gärtner oder Tierpfleger – oder zumindest Inspirationen, wie sie ihr eigenes Land wieder zum Leben erwecken können. Überall um das Projektgebiet herum entstehen neue Gummi-, Teak- und Zuckerpalmenplantagen. Die Anregung dazu erhielten die Bauern meist von Nachbarn oder Verwandten, die in Samboja arbeiten. 

Der erstaunlichste Nebeneffekt der allgemeinen Begrünung: Das Klima stabilisiert sich. Bereist seit drei Jahren gab es weder Dürren noch Überschwemmungen in der Gegend, dafür wieder ausreichend Wasser, um es in Zukunft auch in die nahe Großstadt Balikpapan zu liefern. „Die Hügel waren kahl wie Glatzen, Wasser war teuer und es gab ständig Feueralarm. Jetzt ist die Luft viel frischer und sogar die Tiere kommen zurück“, berichtet Elisa Barur, Dorfchef im angrenzenden Amburawang Darat. „ Ich bin im Regenwald aufgewachsen und freue mich sehr, dass es hier jetzt wieder einen Wald gibt. Das gibt uns allen die Hoffnung, dass wir in Zukunft wieder nach alter Tradition von der Natur leben können.“

Der Haken an der Sache: Noch läuft in Samboja Lestari nichts ohne den Gründer Willie Smits. Der leidenschaftliche Wissenschaftler hat das Projekt bis ins kleinste Detail geplant und für seine Realisierung alles riskiert. Sämtliche Gelder und Spenden, die BOS finanzieren, sind mittlerweile in dieses Pilotprojekt geflossen. „Wenn jetzt irgendetwas schief geht, dann ist es vorbei – nicht nur für die Menschen und Tiere hier, sondern für den Regenwald und die Orang-Utans generell“, sagt der Workaholic, der nachts nur selten mehr als vier Stunden schläft und tagsüber bis zu 15 Tassen Kaffee trinkt. „Ich bin überzeugt, dass Samboja Lestari ein weltweites Vorbild dafür werden kann, wie man mit der lokalen Bevölkerung Natur und Klima retten kann.“

Noch in diesem Jahr, so sieht es der Plan vor, wird Samboja anfangen, sich selbst zu finanzieren – mit einfachen Produkten wie Honig, Pilzen und Früchten, Rattan und Duftholz, aber auch mit dem Verkauf von Trinkwasser und Strom, der mithilfe einer Biogasanlage sowie Ethanol aus Zuckerpalmensaft entstehen soll. Daneben hofft Smits auf Einkünfte durch die Eco Lodge sowie durch wissenschaftliche Kurse und den Verkauf von Daten: Mit seinem Studienkollegen Dirk Hoekmann hat er ein Überwachungssystem entwickelt, das per Satellit jeden Baum der Erde orten und so jeden Holzeinschlag sichtbar machen kann. Zu diesem Zweck hat die Europäische Raumfahrtbehörde ESA einen hochmodernen Transponder auf dem Büroturm von Samboja Lestari installiert, der später in den Besitz der Organisation übergehen wird. „Wir können mit einem gesunden Regenwald viel mehr Geld verdienen als all diese Leute, die sich nur auf ein einziges Produkt wie Holz oder Öl konzentrieren“, schwärmt Willie Smits.

Trotzdem scheint noch ein langer Weg vor den Naturschützern zu liegen. Willie Smits, seit 2004 indonesischer Staatsbürger, hat sich mit seiner direkten Art in den Ministerien nicht nur Freunde gemacht. Auch sind einige einflussreiche Holzbarone und Industrielle nicht gerade gut auf den ehemaligen Berater dreier Forstminister zu sprechen. „Wer neue Ideen durchsetzen will, muss immer gegen das Establishment kämpfen. 1998 habe ich mein Amt im Forstministerium niedergelegt, weil ich das korrupte System nicht mehr mittragen wollte, das illegales Abholzen und Tierhandel erst möglich macht. Und ich habe es gewagt, einige Funktionäre wegen Korruption anzuklagen“, erzählt der Einzelkämpfer.

1.052 Morddrohungen hat Smits in den letzten Jahren erhalten. Er hat sie alle gezählt, die meisten kamen per SMS. Im November 2006 schlug eine Neun-Millimeterkugel 30 Zentimeter neben seinem Kopf in die Rückwand seiner Veranda ein, zweimal schon zündeten Unbekannte sein Haus an, seinen Hunden wurden die Köpfe eingeschlagen. „Und immer gehen die Täter straffrei aus“, klagt der ansonsten so energievolle Charismatiker auf einmal sehr traurig und müde. „Ich habe sogar mal daran gedacht, nach Holland zurückzugehen. Aber das wäre keine Lösung: Nach wenigen Tagen würde ich Indonesien und vor allem die Orang-Utans vermissen. Sie sind meine Hauptmotivation. Ich mache weiter, solange ich kann.“

Mit den Pflanzen in Samboja wachsen auch die Chancen, dass die Orang Utans und mit ihnen zahlreiche Pflanzen- und Tierarten den Kahlschlag der Urwälder überstehen. Zum Überleben einer Art sind mindestens tausend Individuen nötig. Danach bemisst sich die Größe von Samboja Lestari: Mit dem gezielten Anpflanzen vieler Fruchtbäume ist die eigentlich zu kleine Fläche gerade groß genug, um tausend Orang-Utans einen Lebensraum zu bieten. Daneben ist Platz für ein 58 Hektar großes Gehege für heimatlosen Malaienbären, eine Schildkrötenstation und eine Unterkunft für Arbeitselefanten aus Sumatra. Ein Programm, bei dem Spender aus aller Welt ihr eigenes Stückchen Regenwald kaufen können, soll helfen, das Gebiet weiter zu vergrößern (www.create-a-rainforest.org). Die Orang-Utans mit Hepatitis B oder anderen chronischen Krankheiten werden auf sechs künstlichen Inseln ein Zuhause finden. Rund drei Jahre müssen Bella und ihre Freunde noch in den Gehegen der Rehabilitationsstation aushalten, bis die natürliche Begrenzung aus stacheligen Salakpalmen um Samboja Lestari hoch genug gewachsen ist, um die Affen an einer Flucht aus der Refugium zu hindern, die vermutlich tödlich enden würde.

„Ich weiß, dass unser Projekt keine Garantie bietet, geschweige denn die Lösung aller Probleme ist“, erklärt Willie Smits. „Doch was man in Samboja bereits sieht, ist zumindest der Beweis dafür, dass es noch Hoffnung gibt. Und so lange es Hoffnung gibt, mache ich weiter.“

Erschienen: Greenpeace Magazin, 2/2008

Foto: Christina Schott