Da entschließt man sich zu einer Zugreise durch Sibirien ausgerechnet im Winter, um einmal auf dem zugefrorenen Baikalsee zu spazieren, und sitzt plötzlich in kurzer Hose und T-Shirt auf dem roten Samtsofa seines Abteils, trinkt schwarzen Tee und schwitzt.
Sibirien ist vor allem für seine Kälte berüchtigt. Aus Schauergeschichten, dem Erdkundeunterricht und TV-Dokus. Wenn schon zugreisen in diesen unwirtlichen Teil der Welt, dann auch richtig, nämlich im Winter.
Das stellt sich nun als ziemlich gemütlich heraus, jedenfalls solange man den Zug nicht verlässt. Geheizt wird großzügig. Je kälter es draußen ist, so lautet offenbar die Gleichung, desto höher muss die Innentemperatur sein. Im Grunde die Umkehrung spanischer Hotels. Früher kamen nach Sibirien nur die ganz harten Hunde oder jene, die hierhin verbannt wurden. Dostojewski zum Beispiel wurde vier Jahre nach Omsk geschickt, ihm wurde für die Dauer seiner Strafe sogar das Schreiben verboten.
Beim ersten Stopp auf sibirischem Boden hält man diesen Teil der Strafe eher für theoretisch, denn bei minus 17 Grad ließe sich mit frostzittriger Hand sowieso kein klarer Satz zu Papier bringen. Und das soll erst der Anfang sein. Die Reise wird weiter nach Osten und die Temperatur wird weiter nach unten gehen. Der Zug ist nicht irgendeiner, sondern die Transsibirische Eisenbahn. In ihrer vollen Distanz ist sie die längste Zugverbindung der Welt, mit 9288 Kilometern Gleisen von Moskau bis Wladiwostok. Gebaut vor gut 100 Jahren. Mehr als zwei Wochen dauert die Fahrt inklusive Stopps.
Morgens Städte besichtigen, nachmittags auftauenDer Fahrplan bestimmt den Tag, und der ist in der Regel zweigeteilt: morgens aussteigen, Städte besichtigen, spüren, wie die Kälte sich von unten erst durch die Stiefel, vorbei an den Zehenwärmern und zwei Paar Socken entlang der Skihose unter die Thermobuxe schiebt. Nachmittags zurück in den Zug, Zwiebellook ausziehen, auftauen, sich im Abteil durch die Taiga schaukeln lassen. Man tuckert vorbei an Datschen und Dörfern, die unbewohnt aussehen. Vorbei an verschneiten Hügeln und kahlen Baumstämmen - weißer wird's nicht. Man denkt an Dostojewski und Verbannung, an die Kälte vom Vormittag und daran, wie heiß einem gerade ist.
Draußen ziehen die Birken und der Tag vorbei, kurzes Nickerchen, der Zug hält. Technischer Stopp in Nowosibirsk. 20 Minuten Zeit für frische Luft und um sich die Beine zu vertreten. Schnell die Funktionshose wieder an, Pulli, Jacke, Mütze.
Die Digitalanzeige am Gleis zeigt minus 19 Grad. Ältere Damen spazieren auf und ab und verkaufen Strickhandschuhe. Die russischen Zugreisenden stehen derweil im Schnee und rauchen eine nach der anderen. Sie tragen Shorts und Flipflops und sehen nicht aus, als würden sie frieren.
Am Nachmittag betrachtet der Reisende aus dem Zugfenster Birken, Birken, Birken. Foto: Dennis Schmelz Platzkartny-Waggons sind nichts für GeruchsempfindlicheFür viele Russen ist die Transsib kein Sehnsuchtsort und auch kein Urlaub, sondern die günstigste Gelegenheit, um weite Strecken zurückzulegen. Sie reisen nicht wie ein großer Teil der Touristen in Abteilen, sondern im sogenannten Platzkartny-Waggon. 54 Stockbetten verdrängen Privatsphäre und Sauerstoff, Fenster bleiben bei den Temperaturen verschlossen. Das ultimative Transsib-Erlebnis für Menschen, die nichts zu verbergen und keinen empfindlichen Geruchssinn haben. Der Weg zum Speisewagen führt mittendurch. Dass von den oberen Stockbetten der eine oder andere blanke Fuß auf Kopfhöhe in den Gang ragt, zügelt den Appetit.
So vergehen die ersten Tage. Die Städte gleichen sich ab Moskau ostwärts zunehmend. Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk - sibirische Eklektik nennt das ein Reiseführer. Ein Sammelbegriff für einen Mix aus Zuckerbäckerstil und Plattenbauten im Verhältnis von 20 zu 80.
Mit dem Strom. Morgens geht es raus, zum Sightseeing nach Krasnojarsk. Foto: Christopher Schmid Stimmung wie auf KlassenfahrtDie Nachmittage sind gefüllt mit Wodkaproben und der Erkenntnis, dass Nichtstun und Zwangsverzicht auf Internet erholsam sind. Mittlerweile hat man die unzähligen Funktionen des Zugabteils halbwegs durchdrungen. Keine Schraube ist überflüssig, keine Ecke ungenutzt. Wie bei einem zu groß geratenen Schweizer Taschenmesser lässt sich ständig irgendwo ein Stuhl, ein Tisch oder eine Leiter ausklappen. Ein sehr schickes Taschenmesser mit Messingbeschlägen und Samtgriff, dessen Funktionsumfang sich am Abend erst richtig zeigt.
Dann herrscht Stimmung wie auf Klassenfahrt, mangels Alternativen und weil man ja nicht den ganzen Tag allein aus dem Fenster blicken kann, rückt man mit anderen Reisenden zum Schnack in einem Abteil zusammen. Die Couch, zum Bett ausgeklappt, bietet Platz für vier Personen, sofern diejenige am Fenster schlanke Beine hat, die unter den Tisch passen. Der Platz gegenüber ist dann eher was für kleinere Menschen. Wenn die Obstschale ins Gepäckfach wandert, kann derjenige auf dem Hocker auch sein Glas auf dem Tisch abstellen. Für die anderen in Türnähe muss die in der Wand versenkbare Leiter, die eigentlich zum Hochbett führt, als Abstellfläche reichen. Nur derjenige auf dem Klappsitz zum Gang muss ständig aufstehen, wenn jemand zur Toilette am Ende des Waggons muss. So zusammengepfercht probiert man noch mal von dem Wodka und versucht irgendwann vor dem Schlafengehen, die diversen Beine wieder zu entknoten.