Dem dümmsten Bauern nutzen die dicksten Kartoffeln nichts, wenn er auf ihnen sitzen bleibt. Die Coronakrise ist auch eine Knollenkrise und so kommt es, dass in diesem Jahr viele Landwirte in Deutschland und den Nachbarländern Teile ihrer Kartoffelernte nicht loswerden. Das liegt an der Sache mit den Tiefkühlpommes. Im Sommer der ausfallenden Festivals, Konzerte und reduzierten Freibadbesuche ist der Bedarf an Fritten gering. Deshalb dürfte sich der eine oder andere Bauer von Endabnehmern und Politik fallen gelassen gefühlt haben wie eine heiße - genau.
Dass es ausgerechnet die Kartoffel trifft, ist ein harter Schlag. Immerhin isst der Deutsche die erdige Knolle angeblich so gerne, dass er selbst zu einer geworden ist. Anders als bei Kafka dürfte sich die Verwandlung aber nicht über Nacht, sondern eher als schleichender Abgrenzungsprozess innerhalb der Gesellschaft vollzogen haben. „Du Kartoffel!" hält sich jedenfalls beständig im Straßenslang von Kids im interkulturellen Kontext. Als halbironische Zuschreibung für Kartoffeldeutsche. Oder einfach als Beleidigung, vorzugsweise im Rap.
Nicht immer weiß man, wofür diese Kartoffeligkeit eigentlich steht. Wenn Audio88 & Yassin rappen: „Das wird man ja noch sagen dürfen, als ein stolzer Sack Kartoffeln", oder es bei K.I.Z heißt: „Du Opfer, wen willst du boxen? Überall sind Kartoffeln", dann wird klar, dass sie zumindest mal nichts Gutes verheißt. Auch Julian Reichelt sein bedeutet, Kartoffel zu sein. Dem wurde 2018 als erster der neu geschaffene Preis der „Goldenen Kartoffel" verliehen - ein Knöllchen für diskriminierenden Journalismus in der deutschen Medienlandschaft.
Vielleicht liegt es auch an ihrem schlechten Ruf, also an dem des Nachtschattengewächses, dass die Deutschen immer weniger Kartoffeln essen, und zwar nicht erst seit der Covid-19-Pandemie. Lässt sich am sinkenden Kartoffelquotienten im Umkehrschluss gar der Verlust „dieses Deutschseins" und seiner „Werte" festmachen, von dem viele reden - und bei dem ja auch immer unklar bleibt, was das eigentlich ist? 1950 waren es jedenfalls durchschnittlich noch rund 180 Kilogramm verzehrte Kartoffeln pro Kopf und Jahr. Heute sind es nur noch rund 55 Kilo. Damit sind die Deutschen im europäischen Vergleich sogar fast Schlusslicht! In Polen verzehrt man in etwa doppelt so viele.
So oder so, die Kartoffel hat den negativen Rummel um sie nicht verdient. Immerhin sind Kartoffeln nahrhaft und ob ihres Vitamin-C- und Nährstoffgehaltes ziemlich gesund. Außerdem lassen sie sich ertragreich anbauen, was schon über die eine oder andere Hungersnot gerettet hat. Und sie sind wundervoll wandelbar, ob als Pommes oder Krokette, Salz-, Pell-, Ofen- oder Bratkartoffel, Gnocchi, Puffer, Pürree oder Chips. „Wie hältst du es mit der Kartoffel?" ist auch eine Frage der Weltoffenheit.
In China, wo als größtes Anbauland der Welt viele Kartoffelsäcke stehen, mag man die Knolle zum Beispiel gern als scharf marinierten fein geraspelten Salat. In Indien - auch so eine Kartoffelnation - findet man sie in Curries. Überhaupt kommt die Knolle in vielen Formen und Farben vor und ist geografisch betrachtet gar nicht endemisch deutsch, sondern aus den Anden eingebürgert und hat damit genau genommen einen Migrationshintergrund. Mit den Spaniern gelangte sie einst nach Europa, wo sich die „Tartuffel" erstmal unbeliebt machte. Nicht ihr Fehler, die Bevölkerung hatte nur nicht verstanden, sie vor dem Verzehr zu kochen. Es brauchte einen kleinen Trick von Friedrich dem Großen, der in ihr eine Chance für die Ernährung seiner wachsenden Bevölkerung sah: Laut Legende ließ er nachts ein Kartoffelfeld von Soldaten bewachen. Was so viel Schutz genießt, muss kostbar sein, dachten sich die Menschen, und stahlen die Knollen im großen Stil, um damit ihre eigenen Äcker zu bewirtschaften. Dass wir heute in Deutschland Kartoffeln verzehren, ist im Grunde auf die historische Dämlichkeit der deutschen Langfingervorfahren oder eben die Schläue eines aufgeklärten Königs zurückzuführen.
Vielleicht um davon abzulenken, geben wir den Knollen mit Vorliebe die Namen begehrenswerter Mägde. Die frühreife Cilena, die schöne Annabelle, die köstliche Linda und natürlich die reinlich blühende Sieglinde - es gibt aber auch eine Kartoffel namens Wotan, so schließt sich der Ring. Kartoffeln mit Frauennamen machen rund 90 Prozent aus. Das gefällt nicht jedem. 2016 gab es sogar mal eine Petition, die eine paritätische Verteilung von Kartoffelnamen zum Ziel hatte. Interessierte nur niemanden. Es wäre ja auch noch schöner, wenn sich der „potato gap" vor dem „pay gap" schlösse.
So oder so ist es an der Zeit, die Knolle zu rehabilitieren. Zukünftig müsste man allerdings mit einer anderen Nutzpflanze beleidigen. Das bereits geläufige „du Lauch", was so viel meint wie „du Opfer", böte sich ja förmlich an. Kartoffeln und Lauch schmecken übrigens ganz vorzüglich zusammen. Etwa im Rezept „Kartoffel nach Alman Art". Dazu kocht man sie mit Lauch und püriert anschließend alles zu einem Brei. Aber so, dass ein paar Stückchen bleiben. Deutsche kauen gern. Weil es unter den Fleischfabrikanten derzeit bekanntlich die eine oder andere Kartoffel gibt, lässt man die Speckwürfel oder Wiener Würstchen besser weg.
Am besten ist eine vegane Variante. Dazu werden Schalotten und vielleicht Knoblauch mit dem klein geschnippelten Lauch in Öl angebraten, hinzu kommen die geschälten Kartoffeln, alles mit Brühe aufgießen und kochen lassen, mit etwas Muskat, Salz und Pfeffer würzen. Pürieren. Herzhaft cremig wird es, in dem einige Löffel Cashew-Paste dazu gegeben werden - die geheime Zutat in so etwa jeder veganen Soße. Im Netz finden sich auch Varianten, die das ganze mit Soja-Geschnetzeltem als Hack-Alternative, Hefeflocken und veganer Sahne pimpen. Eine deftige, extra heiße Kartoffelsuppe? Sowieso das perfekte deutsche Sommergericht.
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