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Protokoll einer Flucht, Teil 1: Überfahrt überlebt. Rückruf später.

Lavinjs Fluchtroute: Vom Sindschar-Gebirge ins Flüchtlingscamp in Zako, von dort über die Türkei und das Mittelmeer weiter bis nach Europa.

Lavinj Ibrahimi* ist vor einem Jahr dem Islamischen Staat enkommen. Jetzt ist der Iraker auf der Flucht nach Deutschland. Was geht in jemandem vor, bevor er alles zurücklässt? Was erlebt er unterwegs? Der WESER-KURIER begleitet Ibrahimi auf seinem Weg per Telefon, Kurznachrichten und Chats. Das Protokoll einer Flucht.


Von Carolin Henkenberens, Bremen


10. Oktober, 4.32 Uhr

Hohe Wellen peitschen um das graue Schlauchboot. Ihr Rauschen ist laut und bedrohlich. Kein Stimmengewirr übertönt es, denn die 40 Menschen, die eng aneinander im Boot Richtung Zukunft sitzen, schweigen. Auch der 31 Jahre alte Lavinj aus dem Irak. Trotz der Enge auf dem Boot ist es kalt. Wie kalt das Meer sein muss, denkt Lavinj - und bekommt Angst. Was wäre, wenn das Boot gleich kippt, wenn er stirbt, wenn er Deutschland nie erreichen und alles umsonst gewesen wäre?


Vier Wochen hat Lavinj seine Flucht vorbereitet, der Entschluss reifte viel länger. Es sind Wochen zwischen Vorfreude und Verzweiflung, zwischen Hoffnung und Trauer. Wochen, in denen es immer wieder vor und oft zurück geht, weil es mal so scheint, als würde alles platzen. Weil das Geld nicht reicht, weil die Familie nicht einverstanden ist, dass er nach Deutschland gehen will. In anderen Momenten scheint alles so einfach zu sein, Euphorie macht sich breit.


3. September

„Hi, how are youhuu?", säuselt es blechern aus dem Computer. Zwei dunkle Augenpaare und ein weißes Lächeln sind auf dem ansonsten pixeligen Bild der Webcam erkennbar. Ein verschwommener, sich bewegender Fleck deutet darauf hin, dass mein Gegenüber wie wild winkt. Lavinj ist ein fröhlicher junger Mann. Er sitzt auf dem Bett eines billigen Hotels in Dohuk im Norden des Irak und grinst in die Kamera. Lavinj lebt eigentlich in Zakho, rund eine Autostunde nördlich von Dohuk. Doch durch Glück hat er Arbeit in Dohuk gefunden, als Übersetzer für eine deutsche Hilfsorganisation auf Behördengängen. Heute hat er eine Menge Büros gesehen. „Zertifikate, Papiere, Stempel - die Beamten hier lieben das", erzählt er und lacht. Bürokratie. Immer diese Bürokratie, sagt er und lacht wieder. Dass das in Deutschland nicht viel besser ist, kann er nicht glauben. Deutschland ist für ihn ein perfekter Ort.


Lavinj gehört als Jeside im Irak einer diskriminierten und verfolgten Minderheit an. Für Radikale sind Jesiden Teufelsanbeter. Und das nicht erst, seit die brutalen Kämpfer des Islamischen Staates im August 2014 anrückten. Bereits zuvor schickte die Al Qaida ihm Todesdrohungen. Man würde ihm in den Kopf schießen, wenn er sich weiter kritisch über die Islamisten äußere, hatten sie ihm ausrichten lassen. Während seines Studiums am College in Mossul musste er sich oft tagelang im Haus verstecken, trug zur Tarnung ein christliches Kreuz. Weil es so gefährlich war, lernte er nach einiger Zeit von zu Hause aus, besuchte die Universität nur für Prüfungen und wechselte sogar nach Koya im Nordosten des Landes. Doch auch dort wurde er bedroht, die Polizei habe ihn nie ernst genommen. Auch dann nicht, als einmal auf ihn geschossen wurde.


07. September

Das Zertifikat ist da. Lavinj hat sich sein Abschlusszeugnis ein zweites Mal ausstellen lassen. Es würde ihn berechtigen, in den USA weiter zu studieren, sagt er. „Meine Familie möchte, dass ich zu meinem Bruder in die USA gehe." Aber das möchte er nicht. In Deutschland hat er Freunde.


11. September, 16 Uhr

Bling. Auf dem Handy leuchtet der Facebook-Messenger auf. Es ist Lavinj. „Can you call me?" Es klingt dringend. Am Telefon ist er ganz aufgeregt. „Ich werde spätestens in drei Tagen das Land verlassen", sagt er. Die Diskriminierungen seiner Religion, die jahrelangen Bedrohungen hat er satt. Und seit er vor dem IS geflohen ist und in einem Flüchtlingscamp lebt, sieht er keine Zukunft mehr für sich im Irak. Später will er mehr erzählen.


11. September, 21 Uhr

Es ertönt nur ein Freizeichen, da nimmt Lavinj schon ab und erzählt drauf los: „Am 3. August flüchteten wir vor dem IS, es war ganz früh morgens", sagt er und seine Stimme klingt aufgebracht. „Der IS war schon nah an der Stadtgrenze von Sindschar". Dort ist er aufgewachsen mit zehn Geschwistern. „Ich wollte nicht fliehen, nahm mein Gewehr und wollte kämpfen. Aber meine Nachbarin bettelte mich an mitzukommen." Mit dem Geländewagen ging es hoch in das Sindschar-Gebirge. Vier Stunden harrten sie dort aus, um auf seinen Bruder und dessen Frau zu warten. Und weil die Mutter Diabetikerin ist, entschied sich Familie Ibrahimi, das Gebirge zu verlassen. Eine richtige Wahl. Tausende Jesiden blieben - und waren monatelang eingekesselt, ihre Massengräber fanden Peschmerga-Kämpfer bei der Befreiung. Mit elf Personen in einem Auto raste Familie Ibrahimi Richtung Dohuk, bat unterwegs fremde Menschen, ihr etwas Benzin zu verkaufen. Nach einigen Kilometern über menschenleere Straßen dann der Schock: An einer Straßensperre stehen Kämpfer des Islamischen Staates. Die Frauen schreien, die Männer müssen ihnen versprechen, sie zu töten, bevor die IS-Terroristen es tun. Die Männer der Familie steigen aus, die Hände nach oben. „Es war wie ein Wunder", beschreibt Lavinj, was dann passiert. Die bärtigen Männer mit den großen Gewehren schreien: „Los, fahrt, fahrt, ihr könnt gehen."


12. September

„Ich konnte meine Familie überzeugen", sagt Lavinj freudestrahlend. Er darf nach Deutschland. Eine Flucht gegen den Willen seiner Familie wäre undenkbar. Jetzt wäre da nur noch die Sache mit dem Geld.


14. September

Trauerstimmung. Lavinj hat nicht genügend Geld. 1700 Dollar besitzt er. Zu wenig für die zahlreichen Schlepper. Also bleibt er erst einmal im riesigen Flüchtlingscamp bei Zakho, in dem er seit der Flucht aus Sindschar lebt. 25.000 Menschen, jede Familie wohnt in einem zwölf Quadratmeter kleinen Zelt. Die Wege sind mit Kies ausgelegt, es gibt genügend Toiletten und Kochstellen. Es könnte schlechter sein. Doch die Situation macht ihn mürbe.


16. September

Lavinj ist heute wieder zuversichtlicher. „Ich möchte Musiker werden", schwärmt er. Seit er 14 Jahre alt ist spielt er Tambur, ein typisch kurdisches Instrument, das ein bisschen wie eine Gitarre aussieht. Ab und an schreibt der 31-Jährige Gedichte über Freundschaft, Liebe und Menschlichkeit.


22. September , 22.14 Uhr

Die Verzweiflung wächst. Lavinj kann und will nicht mehr länger im Irak bleiben. „Ich will so schnell wie möglich weg", schreibt er auf Facebook. Dass sein Geld nicht für eine Reise bis nach Deutschland reicht, ist ihm jetzt egal: „Ich denke ich werde versuchen nach Bulgarien zu kommen. Es wäre sogar okay für mich, erst einmal dort zu bleiben." Kellnern, Wasser verkaufen, Radios reparieren, Gepäck tragen, Erntehelfer: Lavinj hat in seinem Leben schon viele Jobs gemacht. Auch in Bulgarien würde er irgendwie zurechtkommen.


25. September

Lavinj hat seine Meinung wieder geändert. So lange er nicht genügend Geld hat, bleibt er noch im Irak. In Bulgarien, denkt er jetzt, wäre es vielleicht doch nicht so einfach. 300 Dollar möchte er noch sparen, dann hätte er 2000 Dollar beisammen. Als Englischlehrer verdient er 400 Dollar.


02. Oktober

Lavinj ist immer noch im Irak. Ein Besuch bei Verwandten im Süden der Türkei hat ihn einige Tage ablenken können, aber nicht von seinem Plan abgebracht. „Mein Geld reicht immer noch nicht", schreibt er.


04. Oktober, 13.35 Uhr

„Morgen geht es los", schreibt Lavinj. „Ich fahre übers Meer, es ist gefährlich, aber es geht nicht anders. Bete für mich." Wohin fährt er? Welche Route nimmt er? Das alles steht noch nicht genau fest. Wieso geht es nun doch los? Ein Bekannter von ihm hat Kontakt zu anderen Flüchtlingen, die vor kurzer Zeit das gleiche gewagt haben. In Griechenland gebe es Hilfsorganisationen, die die Flüchtlinge kostenfrei unterstützen, hat er gehört. Er hofft, dass diese ihm helfen, wenn er es bis nach Europ a geschafft hat. Der Plan: Gemeinsam mit zwei befreundeten Frauen und ihren drei Kindern will er morgen Nachmittag um 16 Uhr in den Bus steigen, die irakisch-türkische Grenze übertreten und in der türkischen Stadt Ismir den Schlepper treffen. Was hat er eingepackt? Neben Kleidung kaum Persönliches. Stattdessen zwei Dosen Sardinen und drei Dosen mit Hähnchenfleisch. „Ich bin immer hungrig", schreibt er und schiebt einen lächelnden Smiley hinterher.


05. Oktober, 16.57 Uhr

„Ich bin seit einer Stunde in der Türkei, zwanzig Stunden Busfahrt stehen noch bevor. Die letzte Nacht war der Horror, ich war kurz davor, alles abzubrechen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart es ist, seine Familie zu verlassen. Meine kleine Schwester hat die ganze Zeit geweint. Meine Familie war sehr traurig, dass ich gehe. Ich verdamme den Tag meiner Geburt. Wäre ich doch nie geboren! Würde meine Familie doch nie existieren! Uns wäre so viel Leid erspart geblieben. Ich bin so nervös."


06. Oktober

Abends kommt eine kurze Nachricht auf Facebook. „I am in Ismir now, you can call me". Am Telefon macht Lavinj einen geordneten Eindruck, soeben hat er mit seinem Schmuggler Muhamed telefoniert. „Er holt uns vom Busbahnhof ab, dann fahren wir zu seinem Hotel, haben zwei Stunden Pause und danach geht es weiter zum Boot", erklärt er. Was für ein Boot? Schlauchboot. Zu welcher Insel geht es? Lavinj weiß es nicht. Der Schmuggler habe gesagt: Eine Stunde dauere die Überfahrt nach Griechenland. Alle zwei bis drei Stunden bekommt Lavinj neue Informationen, Häppchen für Häppchen. „Ich muss auflegen, der Schmuggler kommt", sagt er plötzlich. Lavinj will keinen Verdacht erregen, weil er dauernd auf Englisch telefoniert.


07. Oktober, 7.30 Uhr

Es dauert lange, bis Lavinj abnimmt. Ich habe ihn wachgeklingelt. Die ganze Nacht war er unterwegs. Vier Stunden war die Gruppe zum Hafen nach Ayvacik, 250 Kilometer nördlich von Ismir, gefahren. Dort angekommen, konnte sie gleich wieder umdrehen: „zuviel Militär." Und weil das die Flüchtlinge aufhalten will, kehrte man lieber wieder um. Die Polizei hingegen kooperiere mit den Schmugglern, erzählt Lavinj. Er ist müde. „Gute Nacht", gähnt er ins Telefon.


07. Oktober, 18 Uhr

Lavinj vertreibt sich die Zeit im Hostel des Schmugglers. 17 Dollar zahlt er pro Nacht für das Mehrbettzimmer, zusätzlich zu den 1000 Dollar für die Überfahrt. Jede Verzögerung wird so zum Umsatzplus für den Schlepper. Heute Abend um 22 Uhr soll es abermals losgehen. Der Schmuggler wird der Flüchtlingsgruppe den Weg zur griechischen Insel zeigen, mitfahren wird er nicht. Ist es Lesbos? „Ich weiß es nicht", sagt Lavinj. Hauptsache griechischer Boden. Sobald er wieder Festland unter den Füßen habe, melde er sich, verspricht er.


9. Oktober, 8.30 Uhr

Der dritte Versuch scheiterte wieder. „Der Schmuggler ist ein Lügner", sagt Lavinj verärgert. Er weiß nicht mehr, was er dem Mann, der sich Abu Saif nennt, glauben soll. Was glaubt man einem Mann, der den gleichen Namen wie eine islamistische Terrorgruppe benutzt? In der Nacht sei wieder zu viel Militär in Ayvacik gewesen, habe der Schmuggler behauptet. Sechs Stunden war die Gruppe zum Hafen gefahren und direkt wieder umgekehrt. Auf einem Foto am Hafen trägt Abu Saif ein helles, weit aufgeknüpftes Hemd, Vollbart und grimmigen Blick. Lavinj will sich nun ausruhen. „Später versuchen wir es wieder."


10. Oktober, kurz nach Sonnenaufgang

Es ist geschafft. Nach drei Stunden gefährlicher Bootsfahrt auf dem Mittelmeer. Lavinj ist in Europa. „I'm alive" wird er später sagen. Er klingt glücklich, überwältigt. „Details kommen später." Er hatte Todesangst während der Fahrt. Doch in die Freude mischt sich Trauer: Wann wird er seine Familie wiedersehen? Zeit für Grübeleien bleibt jedoch kaum, morgen geht es weiter, das Ticket für die Fähre nach Athen hat er schon gekauft. Von dort geht es weiter nach Mazedonien und Richtung Deutschland.


*Name der Redaktion bekannt.


Wir bleiben dran. Lesen Sie bald bei uns, wie es mit Lavinj weitergeht.

Wie der Kontakt zu Lavinj zu Stande kam:

Kennengelernt hat die Autorin Lavinj über einen privaten Kontakt, der im Irak für eine deutsche Hilfsorganisation arbeitet. Die Organisation war für Behördengänge auf der Suche nach einem Übersetzer. Dieser Übersetzer war Lavinj. Weil er neugierig auf "die Deutsche" am anderen Ende der Leitung war, saß er eines Tages mit vor der Skype-Webcam und erzählte von sich und seinen Plänen der Flucht.


















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