Der 24-jährige Schriftsteller Édouard Louis erzählt von der Nacht, in der er vergewaltigt wurde. Durch die Befragung bei der Polizei, die Untersuchungen, das Gespräch mit seiner Schwester kommt ihm die Wahrheit über das Erlebnis abhanden. Mit seinem Buch „Im Herzen der Gewalt“ will er sie sich zurückerobern. Ohne in rassistische Erklärungsmuster zu verfallen, denn der Täter war Algerier. Louis’ Furchtlosigkeit hat mich sehr beeindruckt.
An Heiligabend 2012, nach einem Abendessen mit seinen Freunden, ist der junge französische Schriftsteller Édouard Louis auf dem Heimweg. Er überquert den Pariser Place de la République. Ein Fremder folgt ihm, läuft eine Weile neben ihm her. „Ça va? Feierst du nicht Weihnachten?" fragt er. Édouard - eigentlich entschlossen, zu Hause in seine neuen Bücher hineinzulesen - ist angetan vom Lächeln dieses jungen Mannes, der sich „Reda" nennt. Und von seinem Atemgeräusch, das er so anziehend findet. Er hätte diesen Atem am liebsten zwischen die Finger genommen und sich das Gesicht damit gesalbt, erzählt er später seiner Schwester. Er nimmt Reda mit nach Hause.
Eine spontane Liebesnacht. Die eskaliert. Die damit endet, dass Reda ihn vergewaltigt und zu erwürgen versucht. Am Ende der Nacht, als Reda weg ist, putzt Édouard wie manisch seine Wohnung. Läuft durch den Regen zum Waschsalon, um seine Laken auszukochen. Versucht jede Spur des Täters auszulöschen. Später überzeugen ihn seine Freunde, zur Polizei zu gehen. Dabei ist ihm selbst noch nicht klar, wie dieser Abend eine so brutale Wendung nehmen konnte, wann aus Lust Gewalt wurde, ob er selbst eine Mitschuld daran trug.
Édouard fühlt sich ohnmächtig gegenüber den rassistischen Ressentiments, die in ihm aufkommen. Aber er will sich ihnen nicht ergeben. Reda ist nicht alle anderen, alle anderen sind nicht Reda. Er konfrontiert sich mit seinen Ängsten - und schreibt sich mit seinem Buch ins „Herz der Gewalt". So versucht er, die rassistischen Erklärungsmuster, die ihm aufgedrängt werden, zu durchbrechen. Stattdessen macht er die fatalen Dynamiken, die Gewalt erzeugen, für uns, seine Leserschaft, sichtbar. Das ist eine unangenehme Erfahrung, eine, die einen Rassismus ganz anders verstehen lässt, und die auch die Polizei und Justiz in ihrer Wirksamkeit hinterfragt. Ob es möglich ist, aus solchen Gewaltspiralen auszubrechen, lässt Louis offen.
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