Ihre fragilen Polyesterarbeiten stehen aber nicht nur für in Worten nicht auszudrückende Empfindungen der Freude, der Lust oder des Schmerzes. Ihre Ironie, ihr Fatalismus und ihre Immunität gegenüber vordergründiger Schönheit erinnern an die tiefere, vielleicht eigentliche Bedeutung der Wendung „künstlerische Unabhängigkeit“. Sowohl in Kassel wie in Baden-Baden ist etwa ihr „Cendrier de Célibataire“ ausgestellt, der im letzten Jahr vor ihrem Tod 1973 entstanden ist. Der „Aschenbecher eines Junggesellen“ hätte eine witzige Pop Art-Ikone sein können, wenn Alina Szapocznikow das Motiv in knalligem Realismus produziert hätte. Doch handelt es sich um einen über dem Mund abgeschnittenen Abguss ihres eigenen Halses und Kopfes und um echte Zigarettenstummel, die mit einer Ascheschicht in der Polyesterharz-Plastik konserviert sind.
Alina Szapocznikow, Souvenir III, 1971, alle © ADAGP, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn, 2018. Courtesy The Estate of Alina Szapocznikow / Piotr Stanislawski / Galerie Loevenbruck, Paris / Hauser & Wirth
Im Zentrum ihres Schaffens steht der Körper, der eigene Körper als Speicher von einzigartigen Erfahrungen, und auch als Projektionsfläche traumatischer Erlebnisse. Alina Szapocznikow wurde 1926 in Kalisz geboren, ihre Eltern, assimilierte Juden, waren beide Ärzte. Gemeinsam mit ihrer Mutter überlebte sie Ghetto, Zwangsarbeit und Vernichtungslager. Nach der Befreiung studierte sie in Prag an der Hochschule für Kunstgewerbe und begeisterte sich für den Kommunismus. Ein Stipendium brachte sie 1947 nach Paris, ihre spätere Wahlheimat. Beeinflusst vom Existenzialismus weichen ihre in Ton modellierten Figuren zunehmend vom Ideal ab, werden abstrakt und fragmentarisch. In den 1960er Jahren kommt Kunststoff als künstlerisches Material auf. Seine porösen oder durchscheinenden Oberflächen, seine organische Anmutung kommt ihren Ideen entgegen. Es entstehen „illuminierte Skulpturen“ wie „Lampe-Bouche“, eine Lampe in Form eines weiblichen Mundes. Damals begann sie in ihrem Atelier in Malakoff auch mit Abformungen ihres Leibes, später auch des Körpers ihres Adoptivsohns Piotr. Alles in ihrem Werk ist Leib, Körper, ihr Körper.
In Baden-Baden kann die Retrospektive auf Grund einer Dachrenovierung nur im großen Saal und einem Nebenraum gezeigt werden. Die komprimierte Präsentation hat Vor- und Nachteile. Manchen der im Geist der Moderne geformten Werke fehlt es deutlich an Raum zum Atmen, so dass Szapocznikows Frühwerk zum reinen Vorspiel verblasst. Ihr Spätwerk hingegen erfährt durch die intime Nähe eine besondere Eindringlichkeit. Als die Künstlerin 1969 von ihrer Krebserkrankung erfährt, geht sie mit noch größerer Intensität dessen sinnlicher Präparierung nach, dringt vor zu Gestaltungen, die Inneres nach außen kehren, surreal wuchernde Formen aus Polyesterharz real erscheinen lassen. In einer ihrer letzten großen Werkgruppen verarbeitet sie Abformungen zu Reliefs: aus Körpern werden Hüllen, in die Strukturen vergangenen Leben eingeschrieben sind. Alina Szapocznikow nannte sie „Herbarium“, entsprechend einer Sammlung getrockneter Pflanzen.
Alina Szapocznikow: Menschliche Landschaften.
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
Lichtenthaler Allee 8, Baden-Baden.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 7. Oktober 2018.
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