SWR2 ZEITWORT
4.8.2014, 6.36 Uhr, Länge: (3:29)
4.8.1940: Varian Fry fliegt nach Europa
von Carmela Thiele ©
Anmoderation
Varian Fry hat Hunderten von Menschen zur Flucht vor den Nazis verholfen. Darunter waren berühmte Autoren und Künstler wie Hannah Arend, Franz Werfel, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Marc Chagall und Max Ernst. Am 4. August 1940 brach Fry im Auftrag des Emergency Rescue Committee nach Marseille auf. Dort sollte es noch Schiffspassagen ins Ausland geben, dort waren viele Emigranten gestrandet. Aus den drei Wochen, die er bleiben sollte, wurden 13 Monate. An seine beispiellose Mission erinnert Carmela Thiele.
Autorin
Varian Fry, ein hochgewachsener Mann mit Brille, Anfang dreißig. Der Journalist mit Harvard-Abschluss überquert am 4. August 1940 im Flugzeug den Atlantik; in seiner Tasche eine Liste mit 200 Namen, um die Beine getaped 3000 Dollar.
Im Juni 1940, nach der Kapitulation Frankreichs, hatte sich die Lage der deutschen Flüchtlinge abermals zugespitzt. Ein Passus des Waffenstill-standsabkommens zwischen Nazi-Deutschland und dem Vichy-Regime hatte das international geltende Asylrecht außer Kraft gesetzt: "Auf Verlangen" seien deutsche Emigranten auszuliefern, - eine Liste der Namen war angefügt.
Zu jenem Zeitpunkt war Varian Fry bereits alarmiert gewesen. Er hatte fünf Jahre zuvor Ausschreitungen gegen Juden in Berlin selbst miterlebt. Der Journalist gehörte zum Umkreis des Emergency Rescue Committee, das sich kurz nach Bekanntgabe des fatalen Abkommens gebildet hatte. In seinem Auftrag reiste Fry nach Marseille. Dort mietete er ein Zimmer im Hotel Splendide. Die Ankunft des Amerikaners sprach sich herum. Das junge Team, das er um sich geschart hatte, arbeitete vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht, die Schlange vor dem Zimmer wuchs. Die französischen Behörden wurden misstrauisch. Fry erinnert sich:
Sprecher (Fry)
Da wir immer Angst hatten, die Polizei könnte ein Abhörgerät in unserem Zimmer anbringen, besprachen wir Geheimsachen nur im Badezimmer bei aufgedrehten Wasserhähnen.
Autorin
Die 200 von der US- Regierung genehmigten Sonder-Visa und das Geld waren bald aufgebraucht. Varian Fry aber war klar, dass er weitermachen musste. Er gewann neue Unterstützer. Um seiner Arbeit eine seriöse Fassade zu geben, gründete der Amerikaner ein legal arbeitendes Hilfskomitee, wie es viele in Marseille gab. Auf diese Weise entkamen weit mehr Flüchtlinge als geplant, getarnt als demobilisierte Soldaten per Schiff nach Casablanca oder zu Fuß über die französisch-spanische Grenze.
Sprecher (Fry)
In dieser Zeit perfektionierten Beamish und ich die F-Route. Johannes Fittko war ein deutscher Journalist und Widerstandskämpfer. Auf unseren Wunsch gingen er und seine Frau Lisa nach Banyuls, in der Nähe von Cerbère.
Autorin
Lisa Fittko erinnert sich an Varian Fry:
1/O-Ton (Lisa Fittko): Er war Feuer und Flamme. Er wollte helfen, er hat, nicht sofort, aber ziemlich schnell, die Situation der Emigranten verstanden. Er hat verstanden, dass man sie legal nicht rausbringen kann. Und er war bereit, und ist dann in illegale Organisationen, also, er hat illegale Dinge organisiert, um Menschen herauszubringen. Das Komitee war hauptsächlich für Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler, aber meines Wissens nach hat er auch vielen anderen geholfen.
Autorin
Im August 1941, nach 13 Monaten illegaler Flüchtlingshilfe, wurde Varian Fry - im Einvernehmen mit den USA - von den französischen Behörden ausgewiesen. Zurück in New York wurde er nicht als Held gefeiert, sondern nun vom FBI überwacht. Ehemalige Kollegen mieden ihn, er publizierte jedoch weiter, brachte sich mit Gelegenheitsjobs durch. Zuletzt arbeitete Fry als Lateinlehrer in Connecticut, wo er 1967 starb. - Spät widerfuhr ihm Anerkennung: Kurz vor seinem Tod hatte Frankreich ihn in die Ehrenlegion aufgenommen. Und 1995 wurde er - als erster US-Bürger überhaupt - zum Gerechten unter den Völkern der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ernannt.
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