»Radikaler Säkularismus ist ein Verlust«
Herr Walzer, woher kommt Ihr Interesse am Säkularismus?
Ich bin in einer akademischen und politischen Welt aufgewachsen, in der
wir alle vom Ende des religiösen Glaubens und der Entzauberung der Welt
ausgingen. Säkularisierung und Modernisierung wurden als unumgängliche
und zusammengehörige Prozesse angesehen. Sowohl während meines Studiums
als auch in meinem politischen Leben galt als selbstverständlich, dass
Religion in der Politik kein Faktor mehr sein würde. Wir müssten uns
über religiösen Fanatismus keine Gedanken machen, der gehöre der
Vergangenheit an. Entsprechend war für viele in der Sozialwissenschaft
und in der Politik das weltweite Wiederbelebung der Religion zunächst
eine große Überraschung.
Wann wurde das Verhältnis von Politik und Religion für Sie relevant?
Dass mit der Sichtweise der Linken auf die Religion etwas nicht stimmt,
wurde mir erstmals klar, als mich 1960 die Redakteure der Zeitschrift
Dissent in die Südstaaten schickten, um mit den Jugendlichen zu
sprechen, die dort Sit-ins an Mittagstischen machten. (Die
Greensboro-Sit-ins waren eine Reihe gewaltfreier Proteste im
Restaurantbereich eines Woolworth-Kaufhauses in Greensboro, North
Carolina, im Jahr 1960, die dazu führten, dass die Kaufhauskette ihre
Politik der racial segregation – etwa: Rassentrennung – in den südlichen
Vereinigten Staaten aufhob, Anm. d. Red.)
Die Redakteure von Dissent waren ehemalige Trotzkisten, die sich damals
als demokratische Sozialisten verstanden und auf der Suche nach einem
breiteren Publikum waren. Sie waren zwar sehr kritisch gegenüber linker
Orthodoxie eingestellt, aber als sie mich in den Süden schickten,
erwarteten sie, dass ich über einen Aufstand schwarzer Arbeiter und
Farmer berichten würde. Stattdessen musste ich sie am Ende belehren,
dass es sich um einen Aufstand schwarzer Baptisten handelte. Obwohl die
Leute, die an den Streikposten standen, aus den Universitäten und den
schwarzen Colleges kamen, lag das Herz der Bewegung in den Kirchen.
Ich musste in Kirchen gehen, was nicht meiner Gewohnheit entsprach, und
habe mir Predigten angehört. Die Predigten waren außergewöhnlich. Die
schwarzen Baptistenprediger beherrschten die englische Sprache in einer
Weise, die in der säkularen Welt verlorengegangen war. Viele dieser
Predigten, die ich gehört habe, bezogen sich auf das Buch Exodus.
Aus dieser Erfahrung entstand später mein Buch »Exodus und Revolution«.
Ich kehrte zurück mit der Erkenntnis, dass Religion immer noch
bedeutungsvoll ist für die Politik – und was mir die wichtigste Einsicht
schien: auch in der Linken.
Exodus, das 2. Buch Mose, erzählt vom Auszug der Israeliten
aus Ägypten. Warum war die Geschichte so wichtig für die schwarze
Bürgerrechtsbewegung?
Weil Exodus eine Geschichte der Befreiung aus der Sklaverei ist, ein
langer Marsch zur Freiheit. Ich meine, Milan Kundera nennt in seinem
Roman »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« den langen Marsch das
Schlüsselbeispiel für linken Kitsch. Er ist das große Klischee der
Linken. Aber für schwarze Aktivisten im Süden war dies eine Geschichte
der Befreiung. Die biblische Erzählung ist eine von göttlicher Erlösung,
aber die schwarzen Baptistenprediger transformierten sie zu einer
Geschichte eines langen menschlichen Kampfes – die 40 Jahre eben, die
die Israeliten nach der Flucht aus Ägypten in der Wüste verbringen.
Das war nichts Neues. In der Englischen Revolution (1640–1660) war der
Exodus eine zentrale Referenz, und sogar für die Russische wurde die
Exodus-Metapher verwendet. Während der Französischen Revolution, auf
dem Höhepunkt des jakobinischen Terrors, wurde ein führender Jakobiner
gefragt, wie lange der Terror dauern werde. Er antwortete, 30 bis
50 Jahre – was so viel bedeutet wie 40 Jahre. Die Aussage vermeidet die
Anspielung auf die Bibel und zugleich vermittelt sie, dass die
Sklavenbevölkerung erst aussterben muss, bevor die Geburt der Freiheit
möglich ist.
Das heißt, es braucht erst eine neue Generation, die das Leben unter dem Ancien Régime nicht mehr kennt?
Das ist eine Interpretation der biblischen Geschichte, warum die
Generation der aus Ägypten entflohenen Sklaven in der Wüste sterben
musste und erst ihre Kinder und Enkel das gelobte Land erreichen.
In dem erwähnten Buch beschreiben Sie den Exodus als eine
Revolution: Nach dem gelungenen Aufstand gibt Moses den Israeliten eine
neue Verfassung. Sah eigentlich Stalin die »Säuberungen« in der
Sowjetunion in Analogie zu Moses’ Bestrafung der Anbeter des goldenen
Kalbs?
Nein, das waren Kommunisten aus dem Westen. Lincoln Steffens, ein
progressiver Journalist der zehner und zwanziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts, schrieb ein Buch mit dem Titel »Moses in rot« – Lenin ist
Moses. Es ist eine Verteidigung der »Säuberung« von den Menschewiki und
der Niederschlagung des Aufstands der Matrosen von Kronstadt. Die
Geschichte des Marschs durch die Wüste ist auch eine Geschichte des
wiederholten – so heißt es in der Bibel – »Murrens« gegen Moses seitens
derer, die zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurück wollten. Jedes Mal
werden die Murrenden getötet.
Das heißt, der Exodus ist die Urrevolution?
Der Exodus war das Bildnis einer Revolution, das einmal sehr
gebräuchlich war. Wie gesagt, in der Englischen Revolution, aber auch in
der Amerikanischen. Elliptisch taucht das Bild noch in der
Französischen und Russischen Revolution auf. Aber für die
Bürgerrechtsbewegung war Exodus der Schlüsseltext.
Sie sagten vorher, etwas sei der säkularen Welt abhanden
gekommen. Das klingt fast wie jene, die sagen, dass säkularen
Gesellschaften etwas Existentielles fehlt. Ist im Prozess der
Säkularisierung Wissen verlorengegangen, das geborgen werden musste?
In der schwarzen community des Südens war dieses Wissen nie verloren.
Ich weiß ja nicht, was Ihr Verhältnis zu diesen Fragen ist. Ich bin ein
säkularer Jude, der jeden Samstag in die Synagoge geht. Es ist der Ort,
an dem ich Menschen treffe, die meine Obsessionen teilen und über meine
Witze lachen. Und die sich einer Geschichte verbunden fühlen, der ich
mich auch verbunden fühlen möchte. Ich denke, ein radikaler
Säkularismus, der diese Verbundenheit aufgibt, ist ein Verlust. Ich sehe
das meistens im jüdischen Leben, und offensichtlich gilt das auch für
andere Religionen.
Aber das stimmt mich persönlich kein bisschen freundlicher gegenüber der
Wiederbelebung militanter Orthodoxie und dem Messianismus der
(israelischen, Anm. d. Red.) Siedlerbewegung. Das ist eine Form von
religiösem Fanatismus, den wir säkularen Juden nicht erwartet haben, den
wir nicht verstehen und dem wir uns widersetzen müssen.
Sie sprechen jetzt von Israel. Was ist Ihre Verbindung zu Israel?
Ich bin in einer Familie von Arbeiterzionisten aufgewachsen. Aber es
waren Arbeiterzionisten der Diaspora. Meine Eltern haben keine Alija
gemacht und es auch nie in Erwägung gezogen. Aber sie traten
leidenschaftlich für die Existenz eines jüdischen Staates ein. Meine Bar
Mitzwa war 1948. Das war eine sehr emotionale Zeit. Ich war 1957 das
erste Mal in Israel. Meine Frau war aktiv bei Hashomer Hatzair, einer
internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation. Wir
besuchten mehrere Kibuzzim und dachten darüber nach zu bleiben, doch
dann bekam ich ein Fellowship in Harvard und wir gingen zurück.
Ich blieb aber Israel verbunden. Die meisten meiner Freunde dort sind
alternde Mapainiks oder Mapamniks (Anhänger der sozialdemokratischen
Partei Israels, Mapai, beziehungsweise der etwas links von Mapai
stehenden Vereinigten Arbeiterpartei Mapam, Anm. d. Red.).
In Israel hat es inzwischen gesellschaftliche und politische
Entwicklungen gegeben – Sie erwähnten die Orthodoxie und die
Siedlerbewegung –, aber man könnte auch den Aufstieg einer
nationalistischen Rechten und den Niedergang der Sozialdemokratie
anführen, die so auch in westlichen Gesellschaften, vielleicht mit
leichter Verzögerung, stattgefunden haben oder stattfinden. Welchen
Einfluss hat das auf die jüdische Diaspora, die gerade in den USA sehr
säkular und progressiv geprägt ist?
Die jüdische Diaspora in den USA ist tatsächlich sehr säkular. Orthodoxe
machen etwa zehn Prozent der US-amerikanischen Diaspora aus, die
meisten Juden sind entweder konservativ, reformistisch oder eben säkular
und wählen seit einer sehr langen Zeit recht konsequent Mitte-links.
Jede weiter links stehende Bewegung in den USA hat einen
überproportional hohen Anteil an Juden. Wir waren nicht sonderlich
betroffen vom Wiederaufleben der Religion – nicht annähernd so wie
Israel oder die muslimischen Länder von Afrika bis Asien oder die
Hindus und Buddhisten. Die jüdische Diaspora der USA ist sich in etwa
gleich geblieben. Es gibt heutzutage sehr viel mehr Ultarorthodoxe, als
wir einmal gedacht hätten. Aber sie sind bei uns nach wie vor in der
Minderheit. Die älteren Mitglieder der community sind sehr
proisraelisch. Das gilt vor allem für die Funktionäre der
zivilgesellschaftlichen jüdischen Organisationen.
Eine Folge der rechten Tendenzen in Israel, der Siedlungspolitik und der
Besatzung ist, dass es inzwischen eine junge Generation gibt, von der
ein Teil offen ablehnend gegen Israel eingestellt ist. Aber das ist ein
kleiner Teil, ein größerer will davon einfach nichts mehr hören. Sie
driften weg. Das beunruhigt mich tatsächlich noch mehr als die
Feindseligkeit der antizionistischen (jüdischen, Anm. d. Red.) Linken,
die sich immer noch auf eine Art sehr mit Israel beschäftigt, auch wenn
ihr Verhältnis sich derzeit feindlich ausdrückt.
Wollen Sie damit sagen, die negative Identifikation linker
Juden mit Israel enthält noch eine Art der Verbindung, durch die man
wieder zueinanderfinden kann?
Genau. Das sind Leute, mit denen ich mich streiten möchte und kann. Bei
den Leuten, die wegdriften, weiß ich nicht, was ich ihnen sagen soll.
Sie erwähnten zuvor fast alle Weltreligionen, nicht aber den
christlichen Fundamentalismus, der nicht nur in den USA, sondern auch in
Russland, Afrika, Südamerika und in ganz Europa stärker geworden ist.
Sehen Sie eine Logik innerhalb der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die
das produziert hat?
Ich denke, es ist schon eine Reaktion auf die Militanz und in manchen
Fällen auf die autoritären Tendenzen im frühen Säkularismus. Doch das
christliche Wiederaufleben in den USA – ich weiß gar nicht, wie ich es
beschreiben soll. In der US-Rechten geht das Wiederaufleben der
Religion einher mit einem weißen Rassismus, von dem ich vermute, dass er
stärker ist als das religiöse Moment.
Wir dachten früher immer, dass Westeuropa und Skandinavien die zwei
Regionen sind, in denen die Entzauberung der Welt tatsächlich
stattgefunden hat. Von den USA konnte und kann man das in der Form nicht
sagen. Ich habe an der Ernsthaftigkeit dieser Religiosität meine
Zweifel, aber in den Vereinigten Staaten ist die Anzahl der Kirchgänger
nach wie vor sehr hoch. Sie ist inzwischen leicht rückläufig, dennoch
sind wir daran gemessen die gläubigste unter den westlichen
Demokratien.
Ist Säkularismus ein westliches Phänomen?
Ja, ich denke schon. Die Anschuldigungen gegen Säkulare, gegen Linke und
Feministinnen, dass sie alle letztlich »Verwestlicher« seien, ist nicht
falsch. In meinem Buch »Das Paradox der Befreiung« untersuche ich das
an zwei Fällen. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru hat acht
Jahre in britischen Schulen verbracht. Er war ein britischer Liberaler.
Algeriens erster Präsident Ahmed Ben Bella, der fünf Jahre in einem
französischen Gefängnis verbrachte, las dort die Werke von André
Malraux und Jean-Paul Sartre und nicht islamische Texte.
Und was ist die Essenz des europäischen Säkularismus?
Für viele bedeutete Säkularismus das Ende religiösen Glaubens. Schon
Bruno Bauer schrieb im 19. Jahrhundert, dass vollständiger Unglauben für
die menschliche Emanzipation nötig sei. Aber ich denke, was
Säkularismus bedeutet – oder besser: bedeuten sollte –, ist die
Zurückweisung jeglicher Art von Zwangsgewalt, um religiösen Glauben
durchzusetzen. Der Staat, der emanzipiert ist von der Religion, schafft
einen offenen, einen säkularen Raum. Darin können alle religiösen
Überzeugungen zunächst einmal gleichberechtigt auftreten. Säkulare
Ideologen können ihre Ideen vorbringen. Und der Staat ergreift dabei für
niemanden einseitig Partei. Eine Ausnahme besteht nur in Form der
offiziellen Ermutigung des Glaubens an die Demokratie. Dazu muss ich
wieder eine Geschichte erzählen: Alexander Hamilton, einer der Gründer
der Vereinigten Staaten, wurde einmal gefragt, warum Gott in der
US-Verfassung nicht erwähnt wird. Er gab die Antwort: Wir haben es
vergessen.
Ich verstehe die Pointe nicht. Was wollte er damit sagen?
Das weiß ich auch nicht. Vermutlich wollte Hamilton den Fragenden nur
provozieren. Aber ich denke, er hat damit etwas zum Ausdruck gebracht,
das ich für ganz entscheidend halte: dass der Staat hinsichtlich der
Rolle, die die Religion in der Vergangenheit im politischen Leben
spielte, »vergesslich« ist.
Die meisten Europäer finden es befremdlich, wenn in den USA
die religiöse Rechte sich auf Religionsfreiheit beruft, um das
Unterrichten der biblischen Schöpfungsgeschichte oder »intelligent
design« neben zu naturwissenschaftlichen Vorstellungen an Schulen zu
rechtfertigen – als seien das vergleichbare und gleichwertige
Denkschulen. Ist das nicht ein Missbrauch des staatlich geschaffenen
Raums, von dem Sie sprechen?
Ein bedeutender Physiker in Harvard sagte einmal, er habe nichts
dagegen, wenn die biblische Schöpfungsgeschichte in der Schule gelehrt
werde, solange Schülerinnen und Schüler auch lernen, dass gegenwärtige
Biologen und Geologen das anders sehen. Ich vertrete eine etwas
strengere Auffassung. Man sollte die Geschichte der Schöpfung genauso
beibringen wie Demokratie. Studierende sollten lernen, dass man für
einen Großteil der Weltgeschichte glaubte, die Monarchie sei die beste
Regierungsform. Aber man muss dazu auch sagen: Das ist falsch.
US-Amerikaner haben ein recht entspanntes Verhältnis zur
Religiosität – meistens zumindest. Wie sieht man dort die derzeit immer
wieder aufflammenden Debatten über Laizismus in Frankreich oder
Deutschland, die sich typischerweise am islamischen Hijab entzünden?
Diese Debatten über Kopftücher, die Burka und den Hijab in der
Öffentlichkeit werden sicherlich verfolgt. Ich denke, die meisten
US-Amerikaner würden keine Art von Verbot des Tragens von Kopftüchern,
Yarmulkas oder Kreuzen unterstützen. Mit der Burka, der
Ganzkörperverschleierung, sind wir in der Form allerdings nicht
konfrontiert und herausgefordert gewesen. Ich hab noch nie gehört, dass
eine Muslimin in den USA je versucht hätte, in einer Burka in ein
Passbüro zu gehen, und verlangt hat, als US-Bürgerin registriert zu
werden. Religiöse Symbole an Schulen würden die meisten US-Amerikaner
hingegen nicht stören.
Sie sagten gerade »herausgefordert« – inwiefern fordert das
Wiederaufleben der Religion säkulare Gesellschaften heutzutage heraus?
Die Herausforderung ist sehr groß, insbesondere in der islamischen Welt,
aber auch im hinduistischen Indien. In Myanmar sind die Säkularen auf
dem Rückzug oder ringen ums Überleben. Ich verfolge die Geschichte der
Organisation Women Living under Muslim Law. Das Akronym »WLUML« ist
ziemlich sperrig, aber es ist eine große Organisation, die in
Nordafrika gegründet wurde und heute Niederlassungen in jedem Land mit
einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung hat, und auch in Indien, das
nach Indonesien und Pakistan das Land mit der drittgrößten islamischen
Gemeinde der Welt ist. Das sind muslimische Frauen oder solche, die sich
vom muslimischen Glauben losgesagt haben, engagierte Feministinnen,
aber auch sehr dem Versuch verpflichtet, islamische Traditionen zu
reinterpretieren, um Geschlechtergerechtigkeit zuzulassen.
In einer Zeit, als der Säkularismus für universal gehalten
wurde, gab es eine Bewegung in Richtung Regionalismus und einer
engstirnigen religiösen Orthodoxie. Wo diese Haltung heutzutage
hegemonial wird, wäre dort nicht säkularer Universalismus die
entscheidende subversive Gegenkraft?
Ich liege da im Streit mit einigen meiner linken Freunde. Sollten wir
zurück zum militanten Säkularismus des späten 19. und des 20.
Jahrhunderts? Oder sollten wir tun, was die Frauen von WLUML tun? Ich
denke, wir sollten auf eine kritische Weise der Religion zugewandt sein.
Wir sollten eine Politik schaffen, die liberale Religiöse mit
säkularen Linken zusammenbringt.
Ist das auch eine späte Schlussfolgerung aus Ihrer Erfahrung mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung?
Martin Luther King und die baptistischen Bürgerrechtler waren
Universalisten. Es ist bemerkenswert, dass der religiöse Flügel der
Bürgerrechtsbewegung universalistisch war, während die black
nationalists, welche die Prediger herausforderten und mit ihnen um die
Führung der Bewegung konkurrierten, oft radikale Säkulare waren und an
Rassentrennung und Separatismus glaubten. Es gibt eine Art von
religiösen Universalisten und Liberalen, die wir aufsuchen müssen. Ich
unterscheide dabei die zwei Sprachen der Religion.
Was sind diese beiden Sprachen?
Das eine ist die Sprache des Dogmas, der Mysterien und des Kampfs gegen
die Häresie. Das andere die Sprache der Toleranz, der Inklusion und die
Vorstellung, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen ist.
Existieren diese beiden Sprachen in säkularisierter Form nicht ohnehin auch in der Linken?
Genau darauf will ich hinaus. Die säkulare Ideologie hat ebenfalls zwei
Sprachen. Die Sprache der korrekten ideologischen Position, die Jagd auf
Abweichler, die Wissenschaft des Marxismus-Leninismus, und so weiter.
Die andere Sprache ist die von Redefreiheit, freier Presse und dem
Recht auf Dissens.
Eine letzte Frage zum Verhältnis von Emanzipation und
Säkularismus: Wenn man den Säkularismus als bedroht empfindet und
notfalls seine Durchsetzung erzwingen wollte, welchen Effekt hätte das?
Das käme darauf an, wie es gemacht wird. Der Staat sollte religiöse
Schulen zulassen, unter der Bedingung, dass dort säkulare Inhalte
gelehrt werden. Und er sollte verlangen, dass Jungen und Mädchen gleich
behandelt werden. Aber ein Kreuz im Gerichtssaal …
… oder eine Richterin im Hijab?
Yarmulka und Hijab sollten erlaubt sein, solange im Falle des Hijabs
das Gesicht sichtbar bleibt, denn das Gesicht des Richters muss man
sehen können. Der einzige Fall, in dem ich wirklich dafür bin, dass
staatlicher Zwang eingesetzt wird, wäre in der Verteidigung der Rechte
von Frauen. Der stärkste Impetus des religiösen Wiederauflebens ist
es, Frauen in ihre tradierten Rollen zu verweisen.
Das Wiederaufleben tritt oft dort besonders extrem auf, wo
einmal die Religion im Namen einer säkularen Ideologie zurückgedrängt
wurde, etwa auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Ist das eine
Reaktion auf eine Art Urschuld der säkularen Linken im 20. Jahrhundert?
Kirchen zu verbrennen, Kirchen zu Pferdeställen zu machen, Priester zu
ermorden – das waren keine guten Ideen. Es war aber auch eine schlechte
Idee, religiöse Menschen zu behandeln, als seien sie dumm. Oder
religiösen Glauben zu behandeln, als sei er inkompatibel mit jeder Form
von Modernität.
Gerade in ihrer repressiven Variante hat sich Religion als sehr kompatibel mit Modernität erwiesen.
Auf jeden Fall. Das religiöse Wiederaufleben ist modern. Es benutzt
moderne Methoden und Technik, es nimmt die Form einer modernen Ideologie
und die Militanz an, die wir mit modernen säkularen Bewegungen
assoziieren. Als Linke nannten wir unsere Aktivisten übrigens früher
militants (der Begriff war bereits im England des 16. Jahrhunderts eine
Bezeichnung für die besonders Gläubigen, Anm. d. Red.).
Michael Walzer wurde 1935 in New York City als Sohn jüdischer Emigranten aus Osteuropa geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten politischen Philosophen der Vereinigten Staaten. In der europäischen Diskussion ist er bekannt für seine Theorie des »gerechten Kriegs«. Er lehrte an der Universität Princeton, ist Herausgeber der Zeitschrift »Dissent« und Mitherausgeber der Zeitschriften »Philosophy and Public Affairs«, »Political Theory« sowie »The New Republic«. In seinen Beiträgen verbindet Walzer Elemente der jüdischen Tradition mit modernem politischen Denken. Mit der »Jungle World« sprach er über Säkularismus, die Linke und deren Verhältnis zur Religion, ein Thema, dass ihn bewegt, seit er als 25jähriger mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Kontakt kam.
»Es kann sein, dass ich nicht mit euch dort ankomme, aber (...) wir als ein Volk werden das gelobte Land erreichen.« Martin Luther Kings Rede in Memphis am 3. April 1968, dem Tag vor seiner Ermordung, machte eine deutliche Anleihe bei der Exodus-Geschichte.
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