Statt in Zauberkugeln zu blicken, reden sie ins Smartphone: Auf Instagram und TikTok inszenieren sich Influencer als Hexen. Wie fühlt sich Magie an?
Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes "Aberglauben Sie das wirklich?" aus unserem Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.
Sonia spürte die Mittagssonne durch ihren dünnen Pullover auf ihrer frisch geduschten Haut. Es war ungewöhnlich warm für einen Tag im März, selbst in Norditalien. Den Laubbäumen, die die alte Burgruine umringen, wuchsen gerade ihre ersten Blätter. Sie nahm ihren Rucksack vom Rücken und setzte sich im Schneidersitz an die Schwelle zur Ruine. Sonia begann ein Ritual, das ihr aus ihrer Arbeitslosigkeit helfen sollte. So erzählt sie es heute nach.
In der Magie sind Schwellen Symbole für Übergänge von einer Lebensphase in eine andere, in eine bessere.
Sonia beschreibt das Ritual so: Sie habe drei Kerzen genommen, Kräuter, Knoblauch, Rotwein, Zwiebeln, Brot, ein Foto von sich, drei grüne Fäden und eine kleine Lanzette aus ihrem Rucksack. All das habe sie auf der Schwelle wie auf einem kleinen Altar drapiert. Dann habe sie ihren Haarknoten geöffnet, wie sie es immer tue vor einem Ritual. Sie habe zwei weiße Kerzen angezündet, die Kräuter verräuchert und die Augen geschlossen. Dann habe sie sich vorgestellt, wie sie ihren Kontostand überprüfe - und bemerkt, dass endlich Gehalt eingegangen sei.
Sie habe die Augen geöffnet, die dritte Kerze angezündet und die Fäden in ihrer Hand geflochten. Dann habe sie gesäuselt: "Gelegenheit, Arbeit, du bist mein. So sage ich es und so soll es sein!" Den Wind und die Waldvögel habe sie nicht mehr gehört. Erst als die Kerze abgebrannt sei, habe sie aufgehört zu sprechen. Sie habe zu der Lanzette gegriffen und damit in ihren Finger gepikst. Als der Blutstropfen das flüssige Wachs berührte, habe es sich für sie angefühlt, als würde ihr Blut in einen tiefen, stillen Teich fallen, sagt sie. Und dann: Als würden ihre Gehirnhälften auseinandergezogen. So habe sie gewusst, dass der Zauber wirke. Noch am gleichen Tag, sagt sie, hätten sie mehrere Jobangebote erreicht.
Sonia K. Woods, 32, lebt inzwischen wieder in Deutschland. Bei dem Gespräch über Zoom sind ihre Haare hochgebunden, ihre Fingernägel lackiert, sie trägt einen dezenten Lidstrich. Durch die Kamera sieht man ihr Zimmer in Braunschweig, Ikea-Lampen hängen von der Decke, neben dem Bett ein paar Kräuter, und die Wand dahinter ist rosa gestrichen. Sonia hat einen Masterabschluss in Kunstgeschichte und Literatur, sie spricht deutlich und bedacht. Man könnte sagen: Sonia wirkt normal. Nur, dass sie auf die Frage, ob sie zaubern kann, mit "Ja" antwortet.
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Sonia nennt sich eine Hexe. Begonnen hat alles, als sie 13 Jahre alt war, um das Jahr 2000. Vielleicht hat sie den Trend gespürt, der knapp 20 Jahre später aufkommen sollte, vielleicht ist sie Teil des Trends.
Seit einiger Zeit erlebt die Figur der Hexe in der Popkultur ein Comeback. Man begegnet ihr nicht mehr nur im Knusperhäuschen im Wald, sondern auch in den Großstädten der Welt. Auf den Laufstegen von Mailand und Paris tragen die Models von Alexander McQueen, Prada oder Gucci dunkle Tüllröcke, spitze Hüte und Umhänge. Die Designerinnen des Taschenlabels Medea ließen sich für ihre Kampagne im Frühjahr 2019 im Londoner Hydepark mit aufgeklebten krummen Hexennasen fotografieren. Von Netflix wurde die amerikanische Serie Sabrina - Total verhext! neu verfilmt. Schauspielerin Megan Fox hat im echten Leben nach eigenen Angaben übersinnliche Kräfte und die Rapperin Azealia Banks hat erst kürzlich ein Video auf veröffentlicht, in dem sie ihre tote Katze in einem großen Topf kocht - um sie wieder zu beleben.
Heilkräuter und Kristalle sind nicht mehr nur etwas für Esoterikerinnen, sondern werden jetzt von Influencern vermarktet, die sich während ihrer Morgenroutine einen Rosenquarz über die Wangen rollen. Das, was mal als Hexerei galt, ist plötzlich alltagstauglich. Für Interessierte ist es leichter als je zuvor, einen Zugang zu dieser Welt zu finden - und so gewinnt die moderne Hexerei immer mehr Anhänger.
Die sozialen Medien haben dabei Wiedergeburtshelfer gespielt. Wer die Entwicklung der Hexengemeinschaft live miterleben möchte, kann in der Video-App TikTok die Subkategorie #WitchTok verfolgen. 2019 wurde der Hashtag das erste Mal benutzt - inzwischen hat er über 10,7 Milliarden Aufrufe. WitchTok ist zu einer alternativen Bewegung geworden, die vor allem in den USA populär ist. Doch auch deutschen Hexen begegnet man dort: der 20-jährigen@enby.mephisto zum Beispiel oder einer 17-jährigen Nutzerin, die gerade erst zur Hexerei gefunden hat und sich@babywitch111 nennt. In einem Video zeigt sie Kräuter, die sie für Rituale braucht, in einem anderen gibt sie Einblicke in ihr handschriftlich gefülltes Buch der Schatten - ein Buch voll dunkler Rituale.
Die WitchTok-Videos haben eine ganze eigene Ästhetik: dunkle Räume, Räucherstäbchen, Kerzen und kleine Glasgefäße, in die verschiedene Zutaten gestopft werden. Trotzdem findet man auch auf WitchTok die typischen TikTok-Videos, die mit den aktuell trendenden Sounds wie M to the B von Millie B unterlegt und mit Tanzeinlagen gespickt sind. Lieber noch hören sie aber das Album Qabalista von selki girl. Hunderte WitchToker berichten von ihren Erfahrungen, denn das Album soll den, der es hört, in eine andere Bewusstseinsebene versetzen. Der Sound ist hypnotisierend, der erste Track Slither klingt wie immer schwerer und lauter werdende Klangschalen, die dem Hörer ihren Klang langsam in die Schläfen fräsen. Er ist elektronisch und bassreich, mystisch - und dann, ab Sekunde 54, klingt es plötzlich nach einem Mix aus Modern Talking und 3OH!3. Doch in der WitchTok-Community ist Qabalista die Pforte ins Reich des Unterbewussten.
Auch wenn das Ganze auf den ersten Blick unglaublich absurd wirkt oder absurd unglaublich, merkt man schnell, dass das alles kein Witz ist. Unter dem Hashtag versammeln sich Menschen, die sich selber als Hexen bezeichnen und das auch vollkommen ernst meinen.
Aber noch mal von vorn. Was sind Hexen eigentlich?