Ich bin aufgeregt, als ich zwischen alten Notizbüchern einen Briefumschlag aus dem Regal ziehe. 13 Jahre - so lange ist es her, dass ich Abitur gemacht habe - habe ich ihn aufgehoben. Jetzt frage ich mich: Warum eigentlich?
Ich werde deine blauen Augen vermissen (...) sei es auch erst in zehn Jahren: Ich möchte mit dir auf deinem Hausberg spazieren gehen (...) und ich hoffe, dass du mir irgendwann glauben kannst, dass ich dich liebe ...
Ich falte den Brief zusammen, stecke ihn zurück in den Umschlag und starre minutenlang ins Leere. Erinnerungen an meine beiden letzten Schuljahre ziehen an mir vorbei.
Ich spüre noch immer seinen sich anschmiegenden Fuß, als wir mit dem Deutschkurs einen Kaffee trinken waren. Natürlich hat er sich neben mich gesetzt. Und auf einmal hebt er meinen Fuß etwas an. Ich versteinere, mein Blick sucht den meiner Schulfreundin Hanna, ich signalisiere ihr, sie solle unter den Tisch schauen. "Mädchen gehen immer zusammen zum Klo", sagt sie und zieht mich mit sich. Er grinst.
Ich bin zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt. Er ist mein Deutschlehrer und kennt mich erst seit vier Monaten. Habe ich eine psychologische oder philosophische Frage, reicht er mir gern Zusatzstoff durch den Klassensaal. Er mag mich und will mich fördern, das merke ich.
In meinem Mail-Postfach gibt es einen Ordner. Darin befinden sich über zwölf Jahre angesammelte Mails von meinem Lehrer.
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Ein paar Monate vor der Sache mit dem Fuß: Es ist spätabends, der 17. März 2007, als ich in meinem Mail-Eingang die erste Nachricht von ihm entdecke. Mein Herz pocht, als ich sie öffne. "Du bist wunderschön. LG", steht darin, gefolgt von seinen Initialen, im Anhang ein Bild von mir, das er in einer spontanen Porträt-Session mit unserem Deutschkurs am Tag zuvor aufgenommen hat. Niemand hatte wirklich Lust darauf, aber er drängte uns dazu, zückte seine Digitalkamera und lichtete einen nach dem anderen ab. Mit diesem Bild fängt die Geschichte an.
Warum ich den Mail-Ordner angelegt habe? Aus Vorsicht, als Beweis. Mir war die ganze Sache nie geheuer, und das war damals die einzige Möglichkeit, die ich sah.
Ich klicke auf das kleine File-Symbol. Betreffzeilen fliegen mir entgegen: "Kaffee-Date", "Traum", "Sternstunde".
Nun, Sternstunde, das ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen, aber irgendwie fand ich unser zweites (!) Telefongespräch gut, ja, wirklich. Habe ich Dich denn sehr zugetextet??
Ungefähr ein halbes Jahr nach seiner ersten Mail hatte ich auf dem beigen Teppichboden in meinem Kinderzimmer gesessen und seinen Anruf entgegengenommen, das Telefon ans Ohr gepresst, als könnte ich dadurch seine Stimme leiser stellen, damit meine Eltern von alledem nichts mitkriegten.
Alle paar Wochen fragt er mich, ob wir uns privat treffen wollen. Ich spüre das flaue Magengefühl beim missglückten Versuch, ihm im Schulflur auszuweichen, wenn ich ihn nicht sehen will. Oft lauert er mir auf und passt mich nach dem Unterricht ab, dabei will ich kein Date mit ihm, und schon gar nicht will ich stundenlang nach der Schule mit ihm reden.
soll ich dir weiterhin mailen??? - bitte, sag ja!!!Plötzlich habe er immer an mich denken müssen, schreibt er mir eines Tages in einer seiner vielen Mails, mal in normaler Rechtschreibung, mal in Kleinschrift, wie sie in seiner Jugend cool war.
(...) ob ich da etwas falsch verstanden habe? - das interessiert mich nicht. da gibt es etwas, einiges, an dir, das mich affiziert, reizt wäre der falsche ausdruck, anzieht, ja, das ist es - etwas rätselhaftes - eine scheu, die ich gerne überwinden würde.
Manchmal ekeln mich seine Aktionen und Nachrichten an. Manchmal genieße ich sie. Ich bin komplett ambivalent.
13 Jahre später starre ich auf meinen Laptop und in all die Mails, die ich von ihm archiviert habe. Ich starre in ein Leben, das mir fremd erscheint, und frage mich: Wie konnte das alles überhaupt geschehen? Und warum kann ich mich dem erst jetzt stellen?
Immer wieder höre und lese ich von Grenzverletzungen in der Schule. Vorletztes Jahr interviewte ich eine Frau in Wien, die mir von ihrer Geschichte erzählte, davon, dass ihr Mann seine Schülerinnen sexuell missbraucht hatte. Sie selbst bekomme als Lehrerin in der Schule Grenzüberschreitungen mit, wie Lehrer von "Hübschis aus der 6b" redeten oder sich über Social Media mit Schülerinnen hin- und herschrieben. Auch bei ihrem Mann habe alles mit Nachrichten angefangen, die er an Schülerinnen schrieb.
Diese Aussage traf mich. Ich saß auf einer Bank im Wiener Burggarten, hörte der Frau aufmerksam zu, deren Mann mittlerweile im Gefängnis saß, und dachte an meine eigene Geschichte.