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Wie Indien lernt, die Toilette zu lieben

Neue Toiletten für Indien | © Britta Petersen

Akshay Kumar ist Bollywood-Star und abonniert auf die Rolle des Action-Helden. Für seinen Film „Toilet. Ek Prem Katha" (Toiletten. Eine Liebesgeschichte) ist er jedoch in eine ungewöhnliche Rolle geschlüpft. Er spielt den Bauernsohn Keshav, der am ersten Tag nach der Hochzeit mit einem überraschenden Problem konfrontiert ist: Seine politisch bewusste Frau Jaya verlässt ihn, weil es in seinem Haus keine Toilette gibt.

Die Geschichte hat einen realen Hintergrund. Nach Zahlen der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) hatten 2012 mehr als die Hälfte der indischen Haushalte und damit mehr als 600 Millionen Menschen keine Toilette. Das Schwellenland weist damit weltweit den mit Abstand grössten Anteil an Menschen auf, die ihr „Geschäft" im Freien verrichten. Experten nennen es „offene Defäkation" und betrachten es als eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Krankheiten wie Durchfall, Typhus, Cholera und Hepatitis, eine hohe Mütter- und Kindersterblichkeit sowie Wachstums, Entwicklungsverzögerungen bei Kindern sind Folgen der offenen Defäkation. Der Welttoilettentag am 19. November, den die Vereinten Nationen 2013 ins Leben gerufen haben, weist auf dieses Problem hin

Mission "Sauberes Indien"

Doch es gibt gute Nachrichten. Seit Premierminister Narendra Modi 2014 an die Macht kam, hat er sich mit Verve auf die Aufgabe gestürzt, Indien zu säubern. "Wir leben im 21. Jahrhundert", sagte er in einer berühmt gewordenen Rede zum Unabhängigkeitstag 2014. „Hat es uns jemals geschmerzt, dass unsere Mütter und Schwestern im Freien ihr Geschäft verrichten müssen? Können wir nicht einfach Toiletten bereitstellen?" „Swachh Bharat Abhiyan" heisst die von Modi gestartete Mission „Sauberes Indien" - und sie zeigt Erfolge. Nach Zahlen der Regierung hatten zu Beginn der Kampagne weniger als 40 Prozent der indischen Haushalte eine Toilette, heute sind es mehr als 85 Prozent „Indien gewinnt den Kampf gegen menschliche Abfälle", lobt auch Bill Gates, dessen gemeinnützige „Bill & Melinda Gates Stiftung" (BMGF) in Indien zahlreiche Programme im Gesundheitsbereich unterhält.

Skepsis wird laut

Doch Papier ist bekanntlich geduldig. In indischen Medien häufen sich skeptische Berichte. Toiletten würden gebaut aber nicht genutzt, Erfolgsberichte geschönt, so lauten nur einige der Überschriften. Shah Alam Khan vom renommierten „All India Institute of Medical Sciences" (AIIMS) ist der Auffassung, dass es keine „statistisch signifikante Reduktion von Epidemien" seit Beginn der Swachh Bharat Mission (SBM) gegeben habe. Die BMGF hält mit einer eigenen Studie dagegen. Danach gebe es weniger Fälle von Durchfall und Mangelernährung in Dörfern, die frei von offener Defäkation (ODF) seien. Eine unabhängige Studie durch Repräsentanten der Weltbank und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) kam kürzlich zu dem Schluss, dass 95 Prozent der als ODF deklarierten Dörfer in Indien dies tatsächlich seien und 77 Prozent der untersuchten Haushalte über eine Toilette verfügten.

Zwei Toiletten für Vijayalakshmis Familie

Doch es lohnt sich genauer hinzuschauen. Hirmathla ist ein Dorf von 2000 Einwohnern im Bundesstaat Haryana. Nur etwa 100 Kilometer von der Hauptstadt Delhi entfernt und doch eine andere Welt. Die Welt in der Akshay Kumars Film spielt. Vijayalakshmi ist 39 Jahre alt und lebt in einem farbenfroh gestrichenen Haus, dessen Zimmer sich um einen offenen Innenhof gruppieren. Irgendwo rattert ein Generator, der auch bei Stromausfall sicherstellt, dass das allgegenwärtige Mobiltelefon geladen werden kann. Sie zeigt stolz ihre zwei Toiletten, eine im Parterre und eine auf dem Dach. „Bis 2009 hatten wir keine Toilette und wussten nichts über Hygiene", erklärt sie. „Aber inzwischen sind wir neun Familienmitglieder, da braucht man schon zwei Toiletten", sagt sie. Das war nicht immer so. Als Vijayalakshmi mit ihrem Erstgeborenen schwanger war, verschärfte sich ein Problem, unter dem viele Frauen leiden, die in Indien keine Toilette haben. Sie kommen oft aus Scham nicht dazu, ihr Geschäft auf dem Feld zu verrichten, weil gerade Männer dort sind und sie verschieben den Gang immer wieder. Verstopfung ist eine häufige Folge.

Ein Dorf wird zum Model

„Während der Schwangerschaft hatte ich 25 Tage lang keinen Stuhlgang", erzählt Vijayalakshmi. „Als mein Sohn auf die Welt kam, war er extrem dünn und seine geistige Entwicklung verzögerte sich. Vermutlich hat er eine Vergiftung erlitten. Das alles wäre nicht passiert, wenn wir damals schon eine Toilette gehabt hätten." Heute ist ihr Sohn 22 Jahre alt, verheiratet und hat einen Job bei einer Bank. „Alles ist gut", sagt sie. Für sie war die Ankunft der Hilfsorganisation „Sulabh International" in Hirmathla ein Segen. Die 1970 von dem Soziologen Bindeshwar Pathak gegründete NGO machte es sich zur Aufgabe, aus Hirmathla ein „Modelldorf" zu machen. „Als wir zum ersten Mal nach Hirmathla kamen, hatte das Dorf 140 Haushalte und 20 Toiletten", sagt Monika Jain, eine Sulabh-Mitarbeiterin. „Heute hat jedes Haus eine Toilette, einige sogar mehr. Die Zahl der Toiletten beträgt 178." Doch dieses Ziel wurde nicht über Nacht erreicht. Doch warum ist es so schwer, für das Thema zu werben?

Toiletten galten als unrein

„Obwohl es in Indien bereits während der Harappa-Zivilisation (in der Bronzezeit) Toiletten gab, haben wir spezifische Probleme", so Pathak. Die Reinheitsvorstellungen des Kastensystems führten dazu, dass nur die Unberührbaren (heute: Dalits) mit Fäkalien umgehen konnten. Jeder andere würde sich rituell verschmutzen." Pathaks eigene Familie war wohlhabend und aus der höchsten Kaste der Brahmanen. „In unserem großen Haus gab es nicht eine einzige Toilette, weil es in der Devi-Purana (einer heiligen Schrift der Hindus) heisst, man solle sein Geschäft nicht in der Nähe von menschlichen Siedlungen verrichten. Toiletten galten als unrein." Pathak fand dies unsinnig. Er und sein Team entwickelten einfache Klos, in deren doppelten Sickergruben die Fäkalien luftdicht abgeschlossen werden. Nach etwa zwei Jahren sind sie völlig geruchsfrei und können als Dünger und sogar als Baumaterial verwendet werden. Manuelle Toiletten-Reinigung wird damit überflüssig. Vorurteile gegenüber den Dalits sind deshalb noch nicht verschwunden. Pathak ist dennoch optimistisch. „Vor 50 Jahren hatte niemand eine Toilette, heute sind es mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Das ist doch Fortschritt!"

Es gibt noch viel zu tun

Nun muss die Regierung ein weiteres Problem angehen: Die „100 Prozent wissenschaftliche Entsorgung von Feststoffabfall", sagt Rumi Aijaz, Experte für Urbanes Management bei der Denkfabrik „Observer Research Foundation" (ORF) in Delhi. Denn in vielen Städten ist das Abwassersystem marode und die städtische Müllentsorgung überlastet. Es gibt also noch viel zu tun.

Akshay Kumars Film jedenfalls war nicht nur in Indien ein großer Erfolg. Er wurde in 50 Ländern weltweit gezeigt, unter anderem auch in China. Der beliebte Schauspieler arbeitet daher bereits an der Fortsetzung „Toilet 2". „Wir haben die Toilette gebaut, aber die Geschichte ist nicht vorbei", versprach er seinen Fans kürzlich auf Twitter.

Autorin

Britta Petersen ist Senior Fellow bei der Observer Research Foundation (ORF), einem Thinktank in Neu-Delhi. Sie lebt seit 15 Jahren in Südasien. Zuvor war sie als Korrespondentin der Financial Times Deutschland in Afghanistan und Indien sowie Büroleiterin der Heinrich Böll Stiftung in Pakistan tätig.

Copyright: © Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan Delhi November 2018

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