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Gleichberechtigung in Indien: "Instant-Scheidung" ist illegal

Das oberste indische Gericht stärkt die Rechte muslimischer Frauen. Die Praxis, nach der muslimische Männer die Ehe durch das dreifache Aussprechen des "Talaq" beenden können, wird verboten.

Indiens Oberster Gerichtshof hat die islamische Praxis, wonach ein Mann sich von seiner Frau scheiden lassen kann, indem er dreimal hintereinander die Formel "Ich verstosse dich" ("talaq, talaq, talaq") ausspricht, für rechtswidrig erklärt.

Für Ishrat Jehan, die in der Nähe Kolkatas wohnt, ist das eine grosse Erleichterung. "Ich habe lange auf diese Nachricht gewartet", sagt die 30-Jährige. "Jetzt können muslimische Frauen erhobenen Kopfes leben und ihr Recht einfordern." Die Mutter von vier Kindern erhielt 2015 einen Anruf von ihrem Mann, der in Dubai arbeitet. Er beendete die Ehe mit der dreifachen Talaq-Formel und nahm Jehan die vier Kinder weg. "Das ging so schnell", erinnert sie sich. "Niemand sollte so etwas durchmachen müssen."

Komplexe Rechtsprechung

Das oberste indische Gericht teilt diese Einschätzung. Am Dienstag entschied es in einem weithin als historisch bezeichneten Urteil, dass die sogenannte "Instant-Scheidung" kein "integraler Bestandteil der islamischen Praxis" sei und "gegen die Grundsätze des heiligen Korans" verstosse. Zwei der fünf Richter vertraten zudem die Ansicht, dass der dreifache Talaq auch gegen den Gleichheitsgrundsatz der indischen Verfassung verstosse. Sie konnten sich mit ihrer Argumentation jedoch nicht durchsetzen.

Das Urteil ist dennoch ein wichtiger Schritt zur Gleichberechtigung muslimischer Frauen in Indien. Es zeigt aber auch, wie komplex die Rechtsprechung im Privatrecht in einem multireligiösen, mehrheitlich hinduistischen Staat mit einer grossen muslimischen Minderheit ist. Indem das Gericht darauf verzichtete, die Talaq-Praxis für verfassungswidrig zu erklären, können die komplexeren Aspekte des islamischen Scheidungsrechts beibehalten und gegebenenfalls mittels Initiativen der muslimischen Zivilgesellschaft reformiert werden. Verboten wird mit dem Urteil nur die Instant-Scheidung, die in vielen islamischen Ländern schon lange nicht mehr gilt. Der Koran erklärt ziemlich eindeutig, dass zwischen dem Aussprechen der drei Talaq jeweils drei Monate liegen müssten, damit das Paar ausreichend Gelegenheit habe, sich zu versöhnen.

Die islamische Scharia-Rechtsprechung basiert jedoch nicht nur auf dem Koran, sondern auch auf den Aussprüchen des Propheten Mohammed (Hadith), die nicht von allen islamischen Schulrichtungen vollumfänglich berücksichtigt werden. So haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Interpretationsansätze herausgebildet. In der schiitischen Rechtsprechung wird die als "talaq-al-bidda'h" bezeichnete Instant-Scheidung nicht akzeptiert, unter den sunnitischen Rechtsschulen anerkennt sie nur die Hanafi-Schule. "Die meisten Islam-Gelehrten sind der Meinung, dass ‹talaq-al-bidda'h› zwar unislamisch, aber trotzdem gültig ist", sagt Anas Tanwir, der als Anwalt am Obersten Gerichtshof in Delhi tätig ist. Es ist ein Widerspruch, der sich wohl nur mit Blick auf die vorislamische Praxis in Arabien erklären lässt. Damals konnten Männer ihre Frauen nach Belieben verstossen und wieder zurückholen.

"Fenster für Reformen"

Die Gelehrten sind sich weitgehend einig, dass die Einführung des Korans die Rechte der Frauen stärkte, indem er Regeln aufstellte, nach denen die Scheidung durchgeführt werden muss. Auch legt er fest, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen die Scheidung initiieren können und die bei der Eheschliessung gezahlte Mitgift im Besitz der Frau bleibt. Mohammed selbst soll die Instant-Scheidung abgelehnt haben, unter dem zweiten Kalifen, Omar, wurde sie gar bestraft.

Auf der Basis dieser Rechtsauffassung hat unter anderem Indiens muslimisches Nachbarland Pakistan den dreifachen Talaq bereits 1961 abgeschafft und eine unter Feministinnen ebenfalls heftig umstrittene Familiengesetzgebung kodifiziert. In 21 weiteren muslimischen Ländern gilt die Instant-Scheidung ebenfalls als widerrechtlich. In Indien konnte sich die patriarchalische Praxis auch deswegen so lange halten, weil sie zu einem Politikum zwischen der derzeit regierenden Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) und den von der Kongresspartei angeführten säkularen Kräften wurde.

Indiens erster Premierminister, Jawaharlal Nehru, gehörte zu den treibenden Kräften der Reform und Kodifizierung der hinduistischen Familiengesetzgebung, die vor fünfzig Jahren keineswegs frauenfreundlich war. Mit den konservativen muslimischen Gelehrten wollte sich seine Kongresspartei aber nicht anlegen. Dies führte dazu, dass die BJP in den 1980er Jahren auf der Basis des sogenannten "Shah Bano"-Urteils des Obersten Gerichts (in dem es um Alimente für geschiedene Frauen ging) regelmässig beklagte, dass muslimische Männer in Scheidungsfällen bessergestellt seien als Hindus.

Inzwischen haben sich die politischen Mehrheitsverhältnisse sowie das gesellschaftliche Klima gewandelt. Premierminister Narendra Modi und seine BJP haben eine solide Mehrheit im Parlament und sitzen politisch fest im Sattel. Die Opposition wirft im Gegenteil nun der Regierungspartei vor, Muslime zu benachteiligen. Doch das Oberste Gericht hat es durch den Bezug auf den Koran und die islamische Praxis in der Urteilsbegründung geschafft, eine erneute Konfrontation zu vermeiden.

Die Journalistin Seema Chishti bezeichnet das Urteil daher als "ein goldenes Fenster für progressive Reformen". Auch Vibuthu Patel, Professorin am renommierten Tata Institute of Social Sciences betont, dass das Urteil des Obersten Gerichts Anlass für eine offene Debatte über die religiös gefärbte Familiengesetzgebung sein sollte. "Der Subtext aller dieser Gesetze, unabhängig von der Religion, ist, dass Frauen nicht die gleichen Rechte haben wie Männer."

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