Was wäre, wenn die Toten über ihr Leben sprechen könnten? Würden sie bereuen, abrechnen wollen, Ratschläge erteilen? Oder wären sie gleichgültig, überfordert, genervt von dieser Möglichkeit?
Nach seinem Roman „Ein ganzes Leben" schreibt der vielfach ausgezeichnete österreichische Schriftsteller Robert Seethaler in seinem neuen Roman „Das Feld" über den Tod und zeigt ihn als den größtmöglichen Gefühls-, Pathos- und Leidenschaftsvernichter.
Robert Seethaler
Das Feld. Roman
Grummelnde Stimmen vom FriedhofDreißig Tote vom Feld, dem ältesten Teil des Paulstädter Friedhofs, sprechen über ihr Leben. Leider verraten sie uns nichts über den Tod. Das wär ja mal was! Nein, sie grummeln über das was war. Bei den wenigsten ist das ein Anlass zu Freude. Aber so ist es halt. Wer von uns kann ehrlich sagen, er ergreife sein Leben, wann immer es möglich ist? Die meisten haben genug damit zu tun, nicht unterzugehen.
So mag man zu Beginn des Buches, wenn sich die ersten Unlustgefühle einstellen, nach Gründen suchen. Wir können eben nicht aus unserer Haut, aus unserer Zeit. Wir passen uns stets an. Das macht das Leben einförmig. Die Realität ist grau. Liegt nicht ungefähr ein solcher Gedanke dem Roman „Das Feld" von Robert Seethaler zugrunde?
Die Toten unterhalten keine BeziehungenWobei „Roman" die falsche Bezeichnung ist, denn die dreißig Nachrufer vom Feld kommen zwar alle aus dem fiktiven Ort Paulstadt, vielleicht kennt man sich, aber aus der Rückschau war da wenig Verbindendes und auch unterirdisch unterhalten die Toten keine Beziehungen miteinander. Jeder ist ganz alleine tot. Ein Roman aber lebt von Beziehungen und wie sie sich verändern. Wenigstens handelt er von der Dynamik der Beziehung zu sich selbst.
Seethalers dreißig Miniaturen, in der Länge zwischen einem Wort und zwanzig Seiten, sind in dieser Hinsicht aber zu fleischlos, monologisch. Wenn es hoch kommt sind sie poetische Gedankenschönheiten, wie zum Beispiel der Traum von Linda Aberius:
Seethalers Stil ist geprägt von der ReduktionEr schreibe, hat Seethaler mal von sich gesagt, wie ein Holzschnitzer schnitzt. Alles Überflüssige komme weg. Was bleibe, sei die Essenz. Tatsächlich wirkt Seethalers Stil lapidar, knapp, kurz angebunden. Manchmal liefern seine Toten nur ein Wort, so wie die vormalige Kioskbesitzerin Sophie Breyer. Sie ruft den Überlebenden aus dem Grab herauf zu: „Idioten!" Andere kommentieren ihr Leben eher in Aphorismen, Episoden, Szenen oder Listen. Heide Friedland macht eine Liste ihrer sämtlichen Männer auf, Franz Straubein benennt alles, was in seiner Wohnung stand und K.P. Lindow listet seine Racheideen auf, all die Plastiktischdecken, auf denen seine Hände lagen und was er so an Dingen gesammelt hatte.
Vor so viel demonstrierter Banalität möchte man am liebsten die Augen schließen. Aber dann kommt etwas Erstaunliches:
Immer wieder gelingt es Seethaler, die Abschnitte, in denen er seine Toten ihr besinnungsloses Agieren zu Lebzeiten beschreiben lässt, mit schönster Poesie zu krönen. In der zitierten Reflexion über das Sterben glüht sein manchmal forciert wirkender, pathosfreier Stil auf in schauderhaft schönen Bildern des letzten Augenblicks.
Widerspruch von kunstvoller Form und Vergeblichkeit des LebensAber es gibt eben diesen Widerspruch zwischen der Beschreibung des leeren Lebens und seiner Veredelung durch kunstvolle Sätze. Am Ende passen die kunstvollen Sätze nicht ganz zu dem Nebel der Vergeblichkeit, der über den dreißig Episoden liegt. Seethaler scheint es selbst zu wissen, warum sonst würde er seine letzte Stimme aus dem Jenseits, Harry Stevens, folgende Worte sagen lassen?
Wenn man nicht einmal seinen Ahnungen und Gefühlen trauen kann, was bleibt dann noch? Materie, Gegenstände. Harry fragt aus dem Grab heraus nach ihnen. Es sind die letzten Worte in Seethalers Buch „Das Feld":
Je weiter man vordringt, desto deutlicher werden die Gefühle der Abwehr beim Lesen. Denn jeder Monolog ist eine Variante des voran gegangenen. Seethaler betont das Unbewegliche des Menschen. Seine unentrinnbare Einsamkeit.
Nur ein verrückter Junge weiß etwas über die Liebe. Die 29 anderen verstehen nichts davon. Und Seethalers Thema: Im Angesicht des Todes sind wir alle Verlierer. Mehr ist nicht. Manche, wie Annelie Lorbeer, die mit 105 Jahren starb, können das einfach so hinnehmen:
Die Monologe zeigen Seelen unter GeleeRobert Seethaler, der die Monologe seiner Figuren orchestriert, zeigt sie so gut wie nie von innen oder in ihren Beziehungen. Nein, er lässt sie ihre Hinterlassenschaften durchsuchen; sie sehen sich verwackelte Schnappschüsse an, gehen einem Geruch nach, einem Geräusch.
Diese Vorgehensweise ergibt krude Ergebnisse, nur in gewisser Weise echt. Denn sie zeigen: Seelen unter Gelee.
Tut er es nur, weil seine Erzähler Tote sind? Nein. Das ist Robert Seethalers Markenzeichen. Er hat es in all seinen fünf Romanen so gemacht. Der 52-jährige Schauspieler, Drehbuchautor und Schriftsteller ist der Meister des Anti-Pathos, der Reduktion aufs Wesentliche. Er lässt jeder Übertreibung die Luft raus. Dramen zieht er so lange durch die Waschlauge der Gewöhnlichkeit, bis sie am Ende auf Normalmaß geschrumpft sind.
Aber beim Thema Tod ist er seinerseits auf etwas gestoßen, das ihn in all diesen seinen Talenten weit übertrifft. Der Tod ist der größtmögliche Gefühls-, Pathos-, Leidenschaftsvernichter, den man sich nur vorstellen kann. Die Reduktion, die der Tod vorschlägt, ist radikal: das Nichts. Vor diesem Nichts ist Robert Seethaler mit „Das Feld" ehrenhaft gescheitert.
Brigitte Neumann
Stand: 22.6.2018, 9.14 Uhr