Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

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In der Haut des Steinzeitmenschen

Tausende Jahre nach ihrem letzten Hieb landen Steinbeile üblicherweise auf dem Archäologen-Schreibtisch. Ausgegraben, mit modernster Technik untersucht, typologisch eingeordnet. Eine Theorie fürs Lehrbuch, eine Nummer für das Museumsarchiv. Für ein umfassendes Bild über eines der wichtigsten Werkzeuge unserer Vorfahren jedoch genügen die klassischen Methoden der Archäologie nur bedingt. „Besonders gut erhaltene Funde und die Untersuchung von Gebrauchsspuren verraten uns viel, aber nicht alles", sagt Frank Siegmund, Prähistoriker von der Universität Düsseldorf.

Um herauszufinden, wie lange es dauerte, einen Baum mit der Steinaxt zu fällen oder eine Basaltklinge in Form zu schlagen, bleibt nur der Selbstversuch. Experimentalarchäologie nennt sich dieser Forschungszweig. Zur Überprüfung ihrer Theorien backen die Forscher Brot, schnitzen Figuren oder bauen einen Einbaum. So wollen sie dem Alltag unserer Vorfahren ein Stück näher kommen.

Die Menschen in der Jungsteinzeit begannen beispielsweise, in kleinen dörflichen Gemeinschaften zu leben. Sie zähmten Tiere, trieben Ackerbau und bauten erste Häuser. Funde deuten auf bis zu 50 Meter lange Behausungen hin. Unklar war, mit welchen Werkzeugen gebaut wurde und wie gut das funktionierte. Heute weiß man, dass Steinäxte aus Basalt äußerst effektiv waren. „Sie müssen sich vor dem Stahlbeil aus dem Baumarkt nicht verstecken", sagt Siegmund.

Dinkel, Gerste, Einkorn: Das knabberte der Steinzeitmensch

Experimentelle Archäologie ist nicht nur der Selbstversuch, sondern eine präzise Wissenschaft. So wird beim Baumfällen mitunter jeder Arbeitsschritt mit einem 3-D-Scanner festgehalten. Am Ende dokumentiert eine Animation den Bau eines jungsteinzeitlichen Langhauses. Auch der frühen Landwirtschaft kann man sich so nähern. Angepflanzt werden Getreidesorten wie Dinkel, Gerste oder Einkorn. Archäologen der Universität Würzburg erprobten über sieben Jahre den Ackerbau mit Brandrodung und Brachzeiten. Ihr Ergebnis: Die Erträge sind erstaunlich hoch und die Landwirtschaft war straff organisiert, manchmal über Generationen hinweg.

Die praktischen Erkenntnisse gehen über das Arbeitsleben hinaus. Für eine Ausstellung schnitzte der Archäotechniker Wulf Hein eine 31 Zentimeter große Elfenbeinfigur mit historischem Werkzeug. Es war ein Mammutprojekt; Hein brauchte fast 300 Stunden. „Selbst ein geübter Handwerker muss mehrere Tage daran gearbeitet haben. Während dieser Zeit konnte er weder auf die Jagd gehen noch aufs Feld", sagt Rudolf Walter, Museumspädagoge und Experimentalarchäologe. Diese Hingabe ist ein Hinweis für die Bedeutung der Mini-Skulptur.

Auch die Funde von Musikinstrumenten und Spielzeugen zeugen von Kultur. Der Nachbau einer 40 000 Jahre alten Flöte aus der Altsteinzeit erwies sich als gut bespielbar und wohlklingend. Dabei nahmen Archäologen lange an, die frühen Menschen wären ständig mit Überleben beschäftigt. „Es waren eben keine primitiven Menschen. Wahrscheinlich gab es eine blühende Kultur", sagt Walter. Einen Beitrag zu dieser Erkenntnis lieferte die Experimentalarchäologie. Trotzdem endet genau bei dem „Zusammenleben" die Deutungshoheit und Aussagekraft.

Kinderbeile deuten auf frühes Lernen - und Arbeiten

„Wir wissen kaum etwas über die Religion der Menschen, das gesellschaftliche Gefüge oder den Kontakt zu anderen Siedlungen. Diese Erfahrungswelt lässt sich nicht einfach rekonstruieren", sagt Siegmund. Natürlich werde beim Nachbau eines Steinbeils historisch-korrektes Werkzeug verwendet. Doch Archäologen können über die ausgefeilten Tricks und Kniffe der jungsteinzeitlichen Handwerker nur spekulieren. „Die Kulturtechniken fehlen uns. Das beginnt bei dem Wissen um die Pflanzen und endet beim Umgang mit Werkzeugen", sagt Walter. Ein Mann der Jungsteinzeit lernte vermutlich früh, mit einer Steinaxt umzugehen und sie herzustellen. Dafür sprechen Beilfunde in Kindergröße. Auch Skelettfunde mit Abnutzungen an der Wirbelsäule deuten darauf hin, dass die körperliche Arbeit in früher Kindheit begann.

Wie Aufwachsen in der Jungsteinzeit war, darüber wissen Forscher wenig. Schriftliche Quellen gibt es nicht. Und für Spekulationen ist der Abstand von 8000 Jahren zu groß. „Alle Theorien sind durch unsere Lebenswirklichkeit gefärbt", sagt Siegmund. Nicht umsonst gebe es unter Archäologen ein Sprichwort: Man kann nur das finden, was man kennt. „Am Ende mag vieles anders gewesen sein, als es sich Archäologen überlegen oder in der Praxis ausprobieren."

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