Birk Grüling

Wissenschaft für kleine und große Leser:innen, Buchholz

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Wie Big Data den Profi-Fußball verändert

Mario Götze spielte im legendären WM-Finale 32 Minuten und lief dabei rund 5500 Meter, schaffte bei Sprints antrittsschnelle 28 Stundenkilometer. Er verlor drei seiner fünf Zweikämpfe, foulte einmal den Gegenspieler und spielte 15 Kurzpässe. Und er schoss zwei Mal aufs Tor, einmal daneben, einmal sicherte der Treffer den WM-Titel.

Seinen flinken Schritten über das Spielfeld folgten nicht nur Millionen Fans, sondern auch hochauflösende Kameras unter dem Dach des Maracanã-Stadions in Rio de Janeiro. Sie zeichneten jede seiner Bewegungen auf dem Spielfeld genau auf.

Bis zu 30 Mal pro Sekunde wurde die Position gemessen, genau wie die der anderen 21 Spieler auf dem Feld. Millionen von Daten entstanden so pro Minute. Mehrere Hundert Gigabyte waren es für die gesamte Partie.

Der zeitnahen Analyse genau solcher Daten verdankt die deutsche Nationalmannschaft ihren WM-Titel, also wenigsten ein bisschen. In Brasilien konnten Jogi Löw und sein Team auf die Daten und Statistiken aus über 7000 Spielen der deutschen WM-Gegner zurückgreifen.

Spitzenklubs leisten sich Teams von Datenspezialisten

Jeder Laufweg des gegnerischen Stürmers, jede taktische Verschiebung der Abwehr, jede Freistoßvariante ließ sich in einer eigens entwickelten App abrufen. Als Spielszene aus einer TV-Auszeichnung, als kurze Animation aus verschiedenen Blickwinkeln, als taktische Ansicht aus der Vogelperspektive.

Dazu Ballkontakte, Geschwindigkeit, Laufstrecken, Ballbesitz. Das Bauchgefühl, der Sachverstand und die Erfahrung von Jogi Löw und Hansi Flick wurden mit Daten und Fakten untermauert - genauer, schneller und unkomplizierter zugänglich als je zuvor.

Davon profitiert nicht nur die Nationalmannschaft, sondern der gesamte Profifußball. Inzwischen wird jedes Bundesliga-Spiel mit Kameras aufgezeichnet. Die Daten werden für die Vereine aufbereitet. Ein Teil der jährlichen Fernseheinnahmen der Deutschen Fußball-Liga (DFL) fließt in diesen Service. Auf die Daten kann jeder Bundesligist chancengleich zugreifen.

Unterschiede gibt es aber in der Nutzung der Daten. So leisten sich die europäischen Spitzenklubs ganze Teams von Datenspezialisten. Manchester City hat beispielsweise eine Abteilung mit zwölf Analysten, ähnlich wie der FC Bayern.

"Die Spielanalysten im Trainerteam werden immer wichtiger, weil sie die steigende Zahl der Daten richtig interpretieren und auf das komplexe Spielgeschehen übertragen können", sagt Daniel Memmert vom Institut für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Früher musste der Trainerstab dafür noch alle verfügbaren Videoaufzeichnungen des nächsten Gegners nach entscheidenden Szenen durchsuchen.

Heute übernimmt diese Aufgaben eine wachsende Zahl von Dienstleistern, die auf die Aufbereitung von Fußballdaten spezialisiert sind. Einer der größten Anbieter auf diesem Gebiet ist die Agentur Prozone aus Nizza.

Schon kleine Fehler machen die Analyse unbrauchbar

In fast allen großen Stadien der Welt sammeln ihre Kameras Daten. Was auch immer ein Trainerteam interessieren könnte, wird bis ins kleinste Detail ausgearbeitet und angeboten. Dafür werden einzelne Spielszenen wie Torschüsse, Eckbälle oder Zweikämpfe ausgesucht und mit entsprechenden Statistiken, Videos und taktischen Animationen verknüpft. Bis 2500 solcher Ereignisse gibt es pro Spiel.

"Unsere Mitarbeiter ordnen händisch die Daten den einzelnen Spielern und ihre Aktionen zu und gleichen so technische Ungenauigkeiten aus. Das ist mühsam, aber schon kleine Fehler machen die gesamte Analyse unbrauchbar", erklärt Prozone-Deutschland-Geschäftsführer Jens Urlbauer.

Den Fußballsachverstand der Trainer kann und soll dieser Service nicht ersetzen. Die Zahlen und Bildern dienen eher als Ergänzung zum Bauchgefühl der Fußballlehrer, ihrem goldenen Händchen und dem Sachverstand.

Die Daten sind ein gern genutztes Angebot, um die subjektiven Eindrücke von der Seitenlinie valide zu überprüfen und die taktische Vorbereitung auf das nächste Spiel zu erleichtern. Und eine Unterstützung, um den Spielern taktische Ideen anschaulich zu machen oder sie besser auf Gegenspieler einzustimmen.

Auch im Trainingsalltag steigt das Interesse an den Daten. Neben Kameras auf dem Trainingsgelände liefern Sensoren in der Kleidung der Spieler viel Messbares - medizinische Daten wie den Puls oder die Atemfrequenz, dazu Sprintqualitäten und Laufleistung. Alles landet gebündelt auf dem iPad des Fitnesstrainers.

Fitnessdaten werden teilweise nicht hinterfragt

Die Hoffnung: mehr individuelles Training, mehr Verletzungsprävention. Doch es gibt eine entscheidende Hürde, wie DFB-Sportmediziner Tim Meyer erklärt: "Die Messetechnik und die Daten werden zwar immer besser. Gleichzeitig wissen wir noch viel zu wenig über die eigentliche Aussagekraft der untersuchten Parameter."

Das Problem: Oft werden Messinstrumente für die Fitness entwickelt, mit viel Lärm beworben, die Relevanz der Daten aber nur wenig hinterfragt oder gar wissenschaftlich untersucht. Ein Beispiel dafür sind die Hormone.

Viele Fitnesstrainer messen dem Hormonspiegel eine große Bedeutung für die Leistung auf dem Platz bei. Doch entscheidende Auswirkungen auf die sportlichen Leistungen wurden wissenschaftlich bisher nicht bewiesen und sind wahrscheinlich eher überschaubar.

Grundsätzlich sei die Erhebung von Daten im Training aber durchaus sinnvoll, sagt Meyer. "Ohne den geschulten Blick des Trainers geht es aber nicht. Die Aussagen, die wir mit den Daten treffen können, sind noch zu ungenau für alleinige Entscheidungen über Auswechslungen oder einen möglichen Einsatz im nächsten Spiel." Ein Problem, das auch für die taktischen Datenanalysen gilt.

Berechenbarer wird Fußball trotzdem nicht

Weltweit versuchen Sportwissenschaftler deshalb herauszufinden, welche Faktoren wirklich über Sieg und Niederlage entscheiden. "Lange galten der Ballbesitz und die Laufleistung einer Mannschaft als entscheidende Faktoren für den Sieg. Doch erfolgreiche Teams wie der FC Barcelona oder die Bayern haben oft eine geringere Laufleistung und sind trotzdem torgefährlich", erklärt Memmert.

Und es gibt auch keinen Zusammenhang zwischen Ballbesitzquote und Spielerfolg. Ein gutes Auge, Erfahrung und ein effizientes Stellungsspiel können eine geringe Laufleistung oder wenig Ballbesitz locker ausgleichen.

Wie mühsam die Entschlüsselung des Fußballs ist, zeigt auch die Analyse der Faktoren, die zu einem Tor führen. Vor knapp zehn Jahren galten noch 47 Prozent aller Toraktionen als zufällig und damit nicht trainierbar. Dazu gehört zum Beispiel ein schlimmer Patzer des Keepers, ein Abseits- oder ein Eigentor.

Inzwischen haben die Sportwissenschaftler den Torerfolg etwas besser verstanden, und nun sind nur noch 40 Prozent aller Faktoren durch den Zufall bestimmt. "Die Entschlüsselung ist keineswegs linear. Deshalb schießt der Zufall auch in 30 Jahren noch Tore", sagt Memmert. Zum Glück möchte man sagen, schließlich macht die Unberechenbarkeit den Fußball erst wirklich spannend.

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