Hannover. Den Kindern einen Zugang zu möglichst vielfältigen Erfahrungen gewähren, ein respektvoller Umgang zwischen Mutter und Vater sowie mehr Anstrengung für Kompromisse und gemeinsame Entscheidungen in der Erziehung - all das sind gute Voraussetzungen für einen späteren Alltag ohne Sexismus.
Jungen raufen gern und Mädchen spielen lieber mit Puppen. In der Erziehung stolpern Eltern häufig über solche Stereotype. Wie macht man sich frei von Geschlechterklischees?
Die meisten Jungen wollen ab einem gewissen Alter Jungen und Mädchen eben Mädchen sein. Natürlich gibt es auch Mädchen, die rosa hassen, und Jungen, die gern Kleider anziehen. All das gehört zur normalen Identitätsentwicklung. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass sie ein möglichst vielfältiges Bild vom Mädchen- und Jungesein entwickeln können. Alle Kinder sollten die Wahlmöglichkeiten haben, ob sie lieber raufen wollen oder sich mehr für Puppen interessieren - ganz unabhängig von ihrem Geschlecht. Das bedeutet aber nicht, dass Mädchen und Jungen gleich erzogen werden sollen. Es geht vielmehr darum, dass sie in ihrer ganz eigenen Unterschiedlichkeit eine eigene Wahl treffen zu können. Genau das ist eine gute Grundlage für Toleranz und Respekt.
Wie lässt sich Vielfalt vermitteln?
Indem man den Kindern einen Zugang zu möglichst vielen unterschiedlichen Erfahrungen ermöglicht. Mädchen erfahren nicht, dass auch Frauen bei der Feuerwehr oder als Ingenieure arbeiten, wenn sie nie eine Feuerwehrfrau oder eine Ingenieurin kennenlernen. Gleiches gilt natürlich auch für Bildungseinrichtungen. Ein Quotenmann in der Kita reicht nicht aus, schließlich sind auch Männer in ihrer Art unterschiedlich - einer mag Fußball und Rangeln, ein anderer interessiert sich mehr für Musik oder Kochen. Diese Erfahrung von Vielfalt ist wichtig.
Eng mit dieser Vielfalt verbunden sind Werte wie Gleichberechtigung und Respekt. Wie können Eltern diese vorleben?
Die Erfahrung, dass die Eltern respektvoll miteinander umgehen, ist für Kinder wichtig. Wenn der Vater die Mutter oder auch andere Frauen im Umfeld oft abschätzig behandelt, muss man sich nicht wundern, wenn das der Sohn übernimmt. Gleiches gilt für die Gleichberechtigung. Auch sie muss vorgelebt werden. Kinder sollten durchaus mal erleben, dass Väter trösten, am Herd stehen und putzen und die Mütter das WLAN reparieren und Löcher bohren. Wir wissen, dass Kinder, die gleichberechtigt von Mütter und Vätern erzogen werden, davon profitieren.
Das Vorleben von Respekt ist nur ein Teil. Wie wichtig ist es, dass Kinder auch Respekt für ihre eigenen Grenzen und ihren Willen erfahren?
Kinder zeigen genau, was sie wollen und was sie nicht wollen. Entscheidend ist die Frage, ob sie erleben, dass ihre Entscheidungen ernst genommen werden. Das Respektieren des kindlichen Willens ist gar nicht so leicht. Uns ist oft gar nicht bewusst, wie selbstverständlich wir bestimmen, was auf den Tisch kommt, was angezogen wird oder wohin der nächste Ausflug geht. Den kindlichen Willen stärker zu respektieren kostet im Alltag sicher oft Zeit und Mühe. Es lohnt sich aber auch. Die Kinder lernen, Respekt für die eigenen Grenzen einzufordern, wenn wir ihnen genau diesen Respekt entgegenbringen.
Wie wichtig ist dabei die Erfahrung, dass man sich auch mal einer Mehrheit unterordnen muss und nicht immer seinen Willen durchsetzen kann?
Kinder wollen gar nicht ständig nach ihrer Meinung gefragt werden. Eltern sollten deshalb auch weiterhin einen Rahmen vorgeben. Trotzdem sollte es genügend Platz für kindliche Mitbestimmung und gemeinsame Kompromisse geben. So können sie lernen, dass man sich manchmal der Mehrheitsmeinung beugen muss.
Welche Rolle spielt die Sexualpädagogik bei der Frage nach Grenzen?
Eine wichtige! Allerdings sollte gerade am Anfang die Entwicklung des eigenen Körpergefühls und einer positiven Einstellung zu Sexualität im Mittelpunkt stehen und nicht zu stark die Prävention von sexueller Gewalt. Sonst besteht aus meiner Sicht die Gefahr, dass die natürliche Sexualität für die Kinder schnell einen negativen Touch bekommt.
Führt die Vermittlung von Respekt, Grenzen, aber auch Gleichberechtigung zu einer Gesellschaft mit weniger Hass und Sexismus?
Wir wollen, dass unsere Erziehung zu autonomen, weltoffenen Menschen und einer besseren Gesellschaft führt. Doch natürlich entstehen mit jedem Wertwandel auch neue Herausforderungen. Wenn Kinder stark sind und ihre Meinung sagen dürfen, gibt es wahrscheinlich mehr Streit. Wenn die Menschen stärker ihre Grenzen einfordern, gibt es weniger Anpassung und Konsens. Das System aus Macht und Unterordnung funktioniert nicht mehr so gut. Die Folge: Es braucht mehr Anstrengung für Kompromisse und Entscheidungen. Das merken wir ja schon, wenn sich Eltern entscheiden, gemeinsam und gleichberechtigt zu erziehen. Das kostet mehr Kraft und führt häufiger zu Streit, als wenn der Mann das Geld verdient und die Frau den Haushalt und die Kinder übernimmt - aber es lohnt sich!
Von Birk Grüling/RND