Hamburg. Der Rat der Marienkäfer-Gruppe steht vor einer schwierigen Entscheidung: Lieber allein in der Turnhalle oder am Nachmittag mit den Eltern? Erzieherin Claudia Otto blickt in 20 grübelnde Gesichter. Die Abstimmung darüber, wie die Laternen für die dunkle Jahreszeit gebastelt werden sollen, nimmt keins der Kinder auf die leichte Schulter. „Mit Mama und Papa ist basteln schöner", sagt Leonie, ein Mädchen mit blondem Zopf. „In der Turnhalle können wir basteln, wann wir wollen", gibt ein rothaariger Junge zu bedenken. Während noch die letzten Argumente ausgetauscht werden, gibt Otto eine Schale mit bunten Glaskugeln herum.
Jedes Kind bekommt zur Abstimmung einen Muckelstein. In der Mitte des Kreises liegen zwei Stimmzettel. Auf dem einen sind kleine Strichmännchen in der Turnhalle zu sehen, auf dem anderen einige Erwachsene. Nacheinander legt jedes Kind seinen Stein auf eins der Blätter. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: 13 Stimmen für das Basteln mit den Eltern, sieben für die Turnhalle. „Okay, dann stimmen unsere beiden Gruppensprecher in der nächsten Kinderratssitzung für das gemeinsame Basteln", sagt Otto.
Diktatur der Großen im KinderalltagSabine Denß, Leiterin der Kita „Lütte Lüüd", verfolgt den morgendlichen Kinder-Parlamentarismus mit einem stolzen Lächeln. Die Kindertagesstätte der Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Holstein ist eine der ersten zertifizierten Demokratie-Kitas in Deutschland. Konkret bedeutet das: An vielen alltäglichen Entscheidungen sind die Kinder beteiligt. Bei den regelmäßigen Waldtagen dürfen die Kleinen zum Beispiel selbst bestimmen, ob sie lieber zur Bärenhöhle oder zum Kletterbaum wandern. Auch die Spielzeiten in der Turnhalle haben die Gruppen gemeinsam geregelt. „Neben diesen Abstimmungen darf jedes Kind über seine persönlichen Bedürfnisse mitentscheiden - zum Beispiel wer es wickeln darf, mit wem es kuscheln will oder was es beim gesunden Frühstück essen möchte", erklärt Denß.
Ein solches Mitspracherecht, wenn auch in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Im Kinderalltag herrscht oft eine gut gemeinte Diktatur der Großen. Die Erwachsenen bestimmen ganz selbstverständlich, was auf den Tisch kommt, was angezogen wird oder wohin der nächste Ausflug geht.
Kinder erstellen eigene VerfassungSich von diesen alten Mustern frei zu machen und etwas mehr Demokratie zu wagen war für Denß und ihre Kollegen eine große Umstellung. Fast fünf Jahre vergingen von der ersten Idee bis zur endgültigen Zertifizierung als Demokratie-Kita im Februar. In dieser Zeit besuchten die Pädagogen Fortbildungen am Kieler Institut für Partizipation und Bildung und sprachen in unzähligen Teamsitzungen über die konkrete Umsetzung.
Außerdem erarbeitete das Team gemeinsam mit den Kindern eine eigene Verfassung. Festgehalten auf laminierten Strichmännchen-Zeichnungen steht diese heute in jeder Gruppe. Sie regelt die Entscheidungsgremien, das Mitspracherecht, aber auch die Grenzen der kindlichen Mitbestimmung. Ein respektvoller und gewaltfreier Umgang miteinander, die Sicherheit der Kinder oder hygienische Aspekte sind nicht verhandelbar. Alle anderen Regeln und Alltagsentscheidungen werden wie in einer „echten" Demokratie immer wieder bewusst hinterfragt - sowohl von den Pädagogen als auch von den Kindern.
Kinder übernehmen mehr VerantwortungMit den ersten Partizipationserfahrungen ist Denß mehr als zufrieden. „Wir erleben täglich, dass die Kinder in der Lage sind, verantwortungsvolle Entscheidungen für sich und die Kita zu treffen. Sie übernehmen zusehends mehr Verantwortung und sagen offen ihre Meinung", erklärt die Pädagogin. Außerdem erfahren die Kleinen, dass Mitbestimmung Spaß macht und jeder die Möglichkeit hat, etwas zu verändern. Gleichzeitig müssen sie damit umgehen, dass man sich manchmal der Mehrheitsmeinung beugen muss.
Diese wertvollen Demokratie-Erfahrungen dürfen auch schon die ganz Kleinen machen. Im Morgenkreis der Igelgruppe klingeln gerade sieben Windelträger das Gruppenmaskottchen Oli aus seinem Schlafkarton. Von jedem Kind bekommt der Igel einen dicken Guten-Morgen-Kuss, dann holt Erzieherin Stephanie Rosner ihre Gitarre hervor. Welche Lieder gesungen werden, dürfen die Kinder selbst entscheiden.
Dass die meisten noch nicht sprechen können, ist dabei kein Hindernis. Ein großer, blauer Würfel mit den Bildern der Kinder entscheidet darüber, wer das nächste Lied auswählt. Gerade wühlt Frida in der Musikkiste, jeder Gegenstand darin steht für ein andres Lied. Triumphierend hebt die Einjährige einen kleinen Plüschhasen in die Höhe. „Häschen in der Grube saß und schlief. Armes Häslein, bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst?", stimmt Rosner an. Frida strahlt über das ganze Gesicht und klatsch eifrig mit.
Demokratie mit ZertifikatIn ganz Deutschland gibt es Kindertagesstätten mit demokratischem Ansatz, aber die wenigstens sind zertifiziert. Die Arbeiterwohlfahrt in Schleswig-Holstein allerdings lässt derzeit sogar alle der 58 Einrichtungen als Demokratie-Kitas zertifizieren. Dafür müssen die Kitas nachweisen, dass die Kinderrechte im Alltag verankert sind und eine eigene Verfassung mit den Kindern entwickelt wurde. Darin werden alle Regeln und Rechte festgehalten. Außerdem werden Mitbestimmungsgremien für die Kinder geschaffen. Das Partizipationskonzept wurde unter anderem von dem Kieler Institut für Partizipation und Bildung entwickelt.
Von Birk Grüling/RND