Birk Grüling

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Kiffen auf Rezept

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Seit Anfang des Jahres dürfen Ärzte medizinisches Cannabis verschreiben. Dabei geht es keinesfalls um Joints auf Rezept. Im Fokus stehen Therapieansätze für schwerkranke Patienten. Auch in der Erforschung der Wirksamkeit wollen Mediziner Fortschritte machen.

Cannabis-Öl zur Schmerzlinderung

Als Henrik Müller (Name von der Redaktion geändert) zum ersten Mal in das Asklepios Schmerzzentrum Hamburg-Harburg kommt, plagen ihn stechende Rückenschmerzen. Während Orthopäden und Neurologen noch über die Ursachen rätseln, genügen dem sportlichen Mittdreißiger anfangs leichte Schmerzmittel und Physiotherapie. Erst ein MRT-Scan bringt die erschreckende Diagnose. Entlang der Wirbelsäule und im Gehirn finden die Mediziner zahlreiche, einige Millimeter große Metastasen. Die Tochtergeschwülste stammen von einem schwarzen Hautkrebs und sind inoperabel.

Sofort beginnt Henrik mit einer sehr belastenden Chemo- und Strahlentherapie. "Der Patient litt unter ständiger Übelkeit und verlor Gewicht. Wir mussten auf immer stärkere Morphine gegen die Schmerzen umsteigen", berichtet Dr. Erwin Boss, behandelnder Facharzt für Anästhesie und Schmerztherapie. Zur Linderung der Beschwerden entscheiden sie sich für eine ergänzende Therapie mit Cannabis-Öl.

Kein Freifahrtschein für Drogen auf Rezept

Dank eines neuen Gesetzes dürfen Ärzte seit Anfang des Jahres schwerkranken Patienten Cannabis als Medikament verschreiben. Dabei gibt es keine Vorgaben für bestimmte Krankheiten. Die Mediziner sollen im Einzelfall über eine Anwendung entscheiden. Ein Freifahrtschein für Drogen auf Rezept ist das nicht. Sie müssen nachweisen, dass es keine andere anerkannte Therapie gibt und die Cannabis-Gabe erfolgversprechend ist.

Außerdem müssen die Patienten an einer großangelegten Begleitstudie zur Wirksamkeit teilnehmen. Sind diese Kriterien erfüllt, tragen die Krankenkassen die Kosten. Bisher war dafür eine Sondergenehmigung nötig, die nur etwa 1.000 Menschen hatten. Experten schätzen, dass von den neuen Regelungen rund 800.000 Patienten profitieren könnten. Den medizinischen Hanfanbau kontrolliert eine neugeschaffene Cannabis-Agentur des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte.

Die Krankenkassen zahlen

Henriks Antrag bewilligt die Krankenkasse in Rekordzeit - schon nach einem Tag kann er mit der Therapie beginnen. Morgens und abends nimmt er zehn bis 15 Tropfen Cannabis-Öl. Mit Erfolg: Sein Appetit kehrt zurück, die Übelkeit verschwindet. Außerdem bleibt die Menge der Schmerzmittel nun konstant.

"Aus der Forschung wissen wir, dass Cannabis zwar kein übermäßig gutes Schmerzmittel ist, aber wie ein Verstärker für Morphine wirkt. Außerdem hilft es gegen Übelkeit während der Chemotherapie", erklärt Dr. Boss. Ein Grund dafür ist der Inhaltsstoff Tetrahydrocannabinol (kurz THC). Er verändert die Wahrnehmung des Körpers, senkt das Schmerzempfinden und beeinflusst die Ausschüttung von Botenstoffen. Zum Wundermittel werde das Cannabis jedoch nicht, betont der Schmerztherapeut.

Noch viele Forschungslücken

Diese Einschätzung bestätigt auch ein Blick in die Forschung. Erst vor wenigen Wochen wies die US-amerikanische Wissenschaftsakademie in einer Auswertung von über 10.000 Publikationen auf die enormen Forschungslücken in Bezug auf medizinischen Cannabis hin. Nur in wenigen Fällen gebe es belastbare Aussagen zur Wirksamkeit - wie zum Beispiel die Behandlung von chronischen Schmerzen, Muskelverkrampfungszuständen bei multipler Sklerose und Erbrechen während einer Chemotherapie. Vereinzelte Hinweise auf die Wirksamkeit gibt es auch bei Epilepsie, Spastiken oder dem grünen Star. Deshalb begrüßt die Bundesärztekammer die im Gesetz festgelegte Begleitstudie.

Durch sie lassen sich deutlich bessere Daten dazu sammeln, wofür Cannabis tatsächlich sinnvoll ist und für welche Krankheiten dies weniger der Fall ist. Auch Henrik nimmt an der Studie teil - als positives Beispiel für die Wirksamkeit. Ihm geht es den Umständen entsprechend gut. Stärkere Schmerzmittel brauchte er bisher nicht, die verlorenen Kilogramm hat er wieder zugenommen. Und die beste Nachricht: Die Metastasen sind nicht weiter gewachsen.

3 Fragen an Dr. Franjo Grotenhermen, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

UNICUM: Was ändert sich mit dem neuen Gesetz für die Patienten? Dr. Grotenhermen: Ärzte können nun die Cannabis-Medikamente verschreiben und die Patienten brauchen keine Sondergenehmigung mehr. Außerdem werden die Kosten unter bestimmten Voraussetzungen von den Krankenkassen übernommen. Aus anderen Ländern wie Kanada oder Israel wissen wir, dass mittelfristig rund ein Prozent der Bevölkerung eine Behandlung mit medizinischem Cannabis bekommt. Das wären ungefähr 800.000 bis 900.000 Menschen in Deutschland.

Es gibt keine klaren Vorgaben für den Einsatz von Cannabis-Medikamenten. Was bedeutet das für die Praxis? "Normalerweise" sind Medikamente für nur wenige Krankheiten vorgesehen. Ihre unterschiedliche Wirksamkeit ist durch Studien belegt. Bei Cannabis müsste man mehr als 50 verschiedene Wirksamkeitsstudien machen, um für alle Indikationen ausreichende Daten zu sammeln. Das wird in den nächsten 50 Jahren wohl nicht passieren. Deshalb müssen die Ärzte im Einzelfall selbst entscheiden, ob ihren Patienten eine Cannabis-Therapie helfen kann. Die Patienten können dann einen Antrag auf Kostenübernahme bei ihrer Krankenkasse stellen.

Die Studienlage zu medizinischem Cannabis ist eher mau. Was wissen wir über die Wirksamkeit? Die Studienlage ist sehr unterschiedlich. Gute Wirksamkeitsstudien gibt es zu Übelkeit und Gewichtsverlust bei Chemotherapie, zu chronischen Schmerzen oder Spastiken. Dazu gibt es noch kleinere Untersuchungen zum Beispiel zum Tourette-Syndrom oder Morbus Crohn. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe anderer Krankheiten, bei denen Cannabis-Präparate wirken können - auch wenn wir (noch) nicht genau wissen, warum. Leider glauben wir heute oft Studien mehr als den Patienten selbst. Deshalb ist es gut, dass die Ärzte selbst entscheiden können, bei welchen Krankheiten sie Cannabis als Therapie einsetzen wollen.

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