Birk Grüling

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Krebs und Psyche: Wie bösartige Tumoren die Persönlichkeit verändern können - SPIEGEL ONLINE

Eigentlich müsste sich Marie freuen. Der bösartige Tumor an ihrer Schilddrüse wurde entfernt, genau wie die Metastasen in den Lymphknoten. Die Chemotherapie schlägt gut an. Eine Narbe ist geblieben, die Hormonpräparate wird sie weiterhin nehmen müssen. Aber ihre langfristigen Heilungschancen sind laut der Ärzte gut.

Trotzdem geht es der jungen Frau nicht wieder gut. Aus dem Bett zu kommen fällt ihr sogar immer schwerer. Stundenlang starrt sie versunken in düstere Gedanken an die Decke. Die Lebensfreude ist verschwunden. "Während der Behandlung habe ich mich nicht krank gefühlt. Ich bin in die Uni gegangen, habe gekellnert und war mit Freunden unterwegs", erinnert sie sich. "Ich wollte tapfer und nicht krank sein." Wie gefährlich die Situation ist, realisiert sie erst später - und fällt in ein tiefes Loch.

Das ist keine Seltenheit: Gerade in der ersten Zeit, während die Patienten zu Spezialisten gehen, sich operieren lassen, eine Chemotherapie oder Bestrahlung beginnen, greift eine Art natürliches Notfallprogramm. "Manchmal dauert es eine ganze Weile bis sie ihre Situation in Gänze wahrnehmen und merken, wie groß die Belastung doch war", sagt Anette Brechtel, Leiterin der Psychoonkologischen Ambulanz am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg.

Veränderte Hormone, veränderte Persönlichkeit

Ängste, Antriebslosigkeit und Phasen der Hoffnungslosigkeit sind im Verlauf der Therapie und auch danach normal und noch keine langfristige Persönlichkeitsveränderung. Bedenklich wird es erst, wenn die depressiven Phasen wie bei Marie über Monate anhalten und es Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags gibt. Der Kontakt zu Freunden wird in dieser Zeit immer seltener, am liebsten ist sie allein. Auch für ihre Hobbies fehlt ihr der Antrieb.

Krebs verändert nicht nur das Leben, sondern manchmal auch die Persönlichkeit der Betroffenen. Solche Wesensveränderungen sind nicht nur auf die Belastung während der Erkrankung zurückzuführen, sondern haben manchmal auch medizinische Ursachen. Tumoren in der Schilddrüse etwa oder in den Nebennieren beeinflussen den Hormonspiegel. Der Mangel kann zu Müdigkeit, Antriebslosigkeit oder Depressionen führen.

"Bei Gehirntumoren beobachten wir häufig neurologische Ausfallerscheinungen und Veränderungen in der Persönlichkeit", sagt Wolfgang Wick, Neuroonkologe in der Universitätsklinik Heidelberg. Er berichtet von einem zuvor eher bodenständigen, sehr zurückhaltenden Patienten, der seit einigen Monaten zu vorher völlig unbekanntem Kaufrausch und gesteigertem Sexualtrieb neigt. Der Mann hat einen bösartigen Hirntumor, der auf den Stirnlappen drückt. Diese Hirnregion ist unter anderem für das Sozialverhalten und die Impulskontrolle zuständig.

Ratsuche beim Psychologen: "Bin ich hier richtig?"

Im Zuge einer Krebserkrankung kann es außerdem passieren, dass das Immunsystem gesundes Gewebe angreift. Einige Patienten entwickeln plötzlich starke Depressionen, werden aggressiv oder leiden unter schweren Gedächtnisstörungen. "Mit Medikamenten lassen sich die Symptome akut behandeln. Chancen auf Heilung gibt es aber nur durch die Krebsbehandlung", erklärt Wick.

Bei Marie hilft der Gang zu einer Krebsberatungsstätte. "Beim ersten Gespräch habe ich noch gefragt, ob ich hier richtig bin", sagt sie. Schließlich war ihr Tumor schon weg. "Wenn die Patienten selbst und ihr Umfeld die Gemütsveränderung als belastend wahrnehmen, ist Unterstützung von außen ratsam", sagt Psychoonkologin Brechtel. Das bedeutet nicht unbedingt, eine Psychotherapie zu beginnen oder Antidepressiva zu nehmen. In vielen Fällen suchen die Patienten kurzfristig Antworten auf brennende Fragen und brauchen einfach einen Außenstehenden, der ihnen zuhört und eine neue Perspektive aufzeigt.

Gute Anlaufstellen sind ambulante Krebsberatungsstellen. Während die Wartezeit für einen Psychotherapieplatz oft lang ist, bekommen Krebskranke und ihre Angehörigen in den Beratungsstellen schnell psychologische Unterstützung. Auch Marie geht inzwischen seit über einem Jahr zu einer Psychologin und einer Selbsthilfegruppe. Außerdem hat sie eine Reha für junge Krebspatienten gemacht.

Der Austausch mit anderen hilft ihr, auch körperlich geht es wieder gut. Bald möchte sie wieder zurück an die Universität. "Ich lebe bewusster, höre mehr auf meinen Körper und nehme Rücksicht auf meine Bedürfnisse", sagt Marie. Diese "Wesensveränderung" findet sie positiv.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels berichteten wir von einem Patienten mit einem gutartigen, hormonproduzierenden Hirntumor, der den Mann psychisch veränderte. Weil es sich nicht um einen Krebspatienten handelte, haben wir einen anderen Fall gewählt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

Birk Grüling, Jahrgang 1985, aufgewachsen im niedersächsischen Niemandsland, hat erst Mathe und dann Musikjournalismus in Hannover studiert und das Herz an Hamburg verloren. Als freier Journalist schreibt er über Wissenschaft und Gesellschaft.

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