Meist sonntags, noch verkatert im Bett liegend, schaue ich großen Fußballern auf YouTube beim Adieu-Sagen zu, und mir wird ganz warm ums Herz vor Melancholie und Pathos. Ich suche ganz gezielt etwa nach "Ribéry emotional farewell". Ich brösle dazu vielleicht mit einer Apfeltasche das Bett voll und kann kaum schlucken, weil sich jedes Mal ein Rührungskloß im Hals bildet.
Franck Ribéry tritt ein letztes Mal vor die Fans und nimmt das Mikrofon. Er hält kurz inne, ringt um das erste Wort. "Was kann ich sagen? Uff. Es ist schwer." Ihm und mir steigen Tränen in die Augen. "Es war eine tolle Zeit zusammen. Zwölf Jahre, unglaublich." Dann bricht seine Stimme und mir das Herz, weil ich ihn gehen lassen muss. So wie vor ihm Gerrard. Totti. Und so viele andere.
Für Menschen, die nicht mit dem Genre Fußballer-Abschiedsvideo vertraut sind, will ich kurz erklären, wovon ich spreche. Die Handlung, immer: Großer Fußballspieler bestreitet letztes Spiel für namhaften Verein, mit dem Abpfiff endet seine Karriere, und er schüttet in einer Rede den Fans im Stadion sein Herz aus. Die wiederum schütten vor Rührung ihr Bier aus, spannen zum Gruß den Bizeps an, auf dem der Kopf oder Name des zu verabschiedenden Spielers tätowiert ist, am Schluss liegen sich ausdrücklich heterosexuelle Männer schluchzend in den Armen.
Es gibt zwei Untergenres, wenn man so will: Wer die schnelle Rührung, den Emotionsquickie sucht, schaut sich Clips an, in denen die kitschigsten Momente des Abschieds auf etwa 90 Sekunden zusammengeschnitten und durch Unterlegung mit Orchestermusik zu einem Gefühlscrescendo bis an die Schmerzgrenze gesteigert werden. Das letzte Tor - Fluch der Karibik- Melodie. Die erste Träne bei der Abschiedsrede - Violinen in Moll. Spieler küsst Vereinswappen auf der Brust - Carl-Orff-Chor. Vorbei. Kitschpenetration, wie sie eigentlich nur im Fußball erlaubt ist.
Puristen dagegen schauen sich die ungeschnittenen, teilweise bis zu 20-minütigen Reden der Fußballer an. Diese Videos haben eine dokumentarische Wucht, der Weg vom letzten Tor zur ersten Träne ist länger, detailreicher. Man hört, wie Fußballer, die eigentlich nicht zum Reden gemacht sind, manchmal erstaunlich kraftvolle Worte finden: "Erlaubt mir, ein wenig Angst zu haben", sagt etwa Francesco Totti angesichts der Ungewissheit dessen, was danach kommt, "diesmal kann ich nicht durch das Tornetz sehen, wie es weitergeht." Aber auch wenn es nur ein einfaches "Die Familie Ribéry, sie liebt eusch" ist, kommt man seinen Helden in den Abschiedsvideos so nah wie selten.
Ergriffen brösle ich im Bett herum und gebe mich gemeinsam mit meinen Helden der naiven Hoffnung hin, dass sie die Reise in das neue, ungewisse Leben nach der Karriere nicht allein antreten müssen, sondern zusammen mit den Zehntausenden, die jetzt ein letztes Mal ihren Namen rufen. Naiv, weil auch die treuesten Fans irgendwann die U-Bahn nach Hause nehmen und der Profi, der jetzt für den Rest seines Lebens Ex-Profi ist, allein zurechtkommen muss. Und nicht alle sind für die Zeit danach ausreichend gerüstet, siehe Diego Maradona, Übergewicht und Drogensucht, Gerd Müller, schwerer Alkoholismus, Ronaldinho, Wahlkampfmarionette für einen Rechtspopulisten und Karikatur seiner selbst.
Aber in den Abschiedsvideos spielt diese Möglichkeit des Untergangs noch keine Rolle. Jedes Video ist ein letzter Moment der unschuldigen Freude - beim möglicherweise tragischen Abspann, der ein halbes Menschenleben dauern kann, habe ich mich schon längst zum nächsten Video geklickt. Ich bin einfach froh für Franck Ribéry, den ehemaligen Bauarbeiter aus Boulogne-sur-Mer, der von den Franzosen verstoßen wurde und in München seine Heimat gefunden hat, dass dieser Mann diesen unwahrscheinlich schönen Abschied erleben durfte, eine Erfahrung der absoluten Liebe und Zuneigung. Ich liebe diese Videos, weil sie immer dort enden.