Scrum ist die bekannteste Methode des sogenannten agilen Managements und derzeit in aller Munde. Denn die voranschreitende Digitalisierung fordert etablierte Arbeitsformen immer stärker heraus. Geschäftsbereiche werden zusehends vernetzt, und überhaupt muss alles viel schneller gehen als in der Vergangenheit. „Agilität bedeutet im Kern: Wir sind nicht mehr bürokratisch“, sagt Andreas Boes, der sich am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung mit der Zukunft der Arbeit beschäftigt. Die Unternehmen hätten erkannt, dass man mit der Digitalisierung Schritt halten müsse. Das krempelt den Arbeitsalltag um – und hat schnell unerwünschte Folgen.
Agiles Management rückt mehr und mehr in den Vordergrund
Die Ursprünge des agilen Managements liegen in den Vereinigten Staaten. Anfang der 90er Jahre stellten die Software-Entwickler Ken Schwaber und Jeff Sutherland fest, dass sie bei immer komplexer werdenden Software-Projekten mit den üblichen langen Planungsphasen und starren Hierarchien zunehmend schlechter zurechtkamen. Aus dieser Lage heraus entwickelten sie Scrum. Der neue Ansatz wurde vom Management damals geduldet, aber noch nicht gefördert. Diese Zeiten sind vorbei. Schon vor gut sechs Jahren begann SAP sich mit dem Thema zu beschäftigen und seinen Software-Entwicklern die agile Arbeitsweise einzuimpfen. Mittlerweile ist das Thema angekommen.
„Seit etwa zwei Jahren ist agiles Management die bestimmende Vorstellung von der Organisation eines Unternehmens und der Arbeitsprozesse“, sagt Soziologieprofessor Boes. Längst beschränkt sich der Trend nicht mehr auf die IT-Branche. Einerseits, weil Software auch im Vertrieb oder im Marketing rasant an Bedeutung gewinnt. Andererseits, weil manche Kunden voraussetzen, dass ein Partner auch agil ist – gerade dann, wenn man gemeinsam auf einer Plattform arbeiten will. Google, Facebook oder Amazon kennen kaum noch eine andere Arbeitsweise. Laut einer Studie der Unternehmensberatung BCG sind agile Unternehmen wirtschaftlich erfolgreicher und wachsen stärker als der Durchschnitt . Die Liste der umstellenden Unternehmen ist lang: Lufthansa, Deutsche Bahn, Hessischer Rundfunk – alle wollen agil werden.
Das merkt auch Natascha Derbort. Sie leitet eine Burnout-Beratungsstelle in Frankfurt und bekommt die negativen Seiten des Trends zu spüren. Vor allem länger gediente Mitarbeiter fühlen sich in der agilen Arbeitswelt überfordert oder gar überflüssig. Bisweilen müssen sie sich komplett umorientieren, weil ihr Manager-Posten im neuen Gefüge wegfällt. „Für viele fühlt es sich an, als würden sie eine neue Stelle antreten“, sagt Derbort.
Das Ergebnis der Zusammenarbeit ist ein Traum für jede Unternehmensführung
Scrum funktioniert nach wenigen, präzisen Regeln. Das Team ist stets interdisziplinär besetzt, arbeitet unabhängig, und es gibt drei zentrale Rollen. Der sogenannte Product Owner repräsentiert den eigentlichen Auftraggeber. Er hält die Anforderungen an ein Produkt fest und sortiert sie nach Dringlichkeit. In maximal vier Wochen langen „Sprints“ arbeitet das Projektteam die Punkte ab, die der Product Owner angibt. Vor jedem neuen Sprint stimmen sich beide Parteien ab, ob die avisierten Aufgaben in der Zeit zu stemmen sind. Ist der Sprint vorbei, werden die neu entwickelten Elemente direkt auf Herz und Nieren geprüft, nicht erst nach Abschluss des gesamten Projekts. Der dritte im Bunde ist der Scrum-Master. Dieser sorgt dafür, dass alle nach den Prinzipien von Scrum arbeiten. Dazu gehört der tägliche „Daily Scrum“ – ein höchstens 15 Minuten langes Treffen, wo jeder kurz berichtet, was er gestern erledigt hat, heute vorhat und welche Schwierigkeiten er sieht. Stattfinden soll die Arbeit in einer offenen Atmosphäre, wo jeder jedem hilft, sein Wissen teilt und Konkurrenzdenken keinen Platz hat. Im Idealfall motivieren sich alle gegenseitig und entwickeln Methoden, wie sie noch schneller und besser werden. Ein Traum für jede Unternehmensführung Der Weg dahin aber ist weit.
„Gute Scrum-Teams brauchen Zeit, um zu reifen,“ sagt Andreas Boes. Oft hakt es schon bei der Einführung. Natascha Derbort berichtet von einem Manager, in dessen Unternehmen die Zentrale schlicht ankündigte, man wolle künftig agil arbeiten. Für die meisten Mitarbeiter war schon der Begriff ein Fremdwort. Mit ein paar Schulungen ist es da nicht getan, also wird die fehlende Expertise oft eingekauft. Bedarf haben viele, wie ein Blick auf die gängigen Portale zeigt: Da sucht BMW einen Scrum-Master für sein Entwicklungsteam zum autonomen Fahren, die Bahn fahndet nach einem „Agile Coach“, und auch EY benötigt offenbar Hilfe, „um auf den Pfad des Scrum zu kommen“. Die Sache hat allerdings einen Haken: Ein Scrum-Master schafft die Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Team, arbeitet aber selbst nicht inhaltlich. Viele Unternehmen haben hinter der Position bislang keinen Karriereplan verankert. „Die Guten meiden daher oft die Rolle, dabei müssten die Besten zum Scrum-Master gemacht werden“, sagt Andreas Boes. Das offenbart die Achillesferse der agilen Methode: „Viele Unternehmen haben kein überzeugendes Konzept für die Führungskräfte.“
In Derborts Praxis erlebt man die Folgen. Ihre Patienten arbeiten oft schon lange im selben Unternehmen, haben einige Beförderungen hinter sich, und auf einmal sind Status und gewohnte Routinen passé. Viele stehen da erst mal vor dem Nichts. „Einige spielen auch mit dem Gedanken, zu kündigen“, sagt Derbort.
Wer bleibt und fortan beispielsweise Product Owner ist, muss sich umstellen. „Eine agile Führungsperson sollte sehr gut mit seinen eigenen Defiziten umgehen können“, sagt Jürgen Ackermann, Psychoanalytiker aus Frankfurt. Eine Fähigkeit, die in der alten Unternehmenswelt zwar nützlich, aber keineswegs notwendig war. Konflikte konnte ein Manager ja kraft seiner Position bisweilen einfach ersticken. Scrum dagegen lebt von Entscheidungen, die alle aus Überzeugung mittragen. „Debatten kann man da nicht mehr aus dem Weg gehen“, so Ackermann. Das überfordert viele – und birgt Gefahren für den Erfolg der neuen Arbeitsweise. Denn verlangt ein Product Owner, geprägt von der alten Denke, permanent zu viel, herrscht am Ende bei allen Frust.
Nur wenn sich jeder der Sache verschreibt, kann Scrum Früchte tragen
„Der Dreh- und Angelpunkt der agilen Methode ist das Empowerment des Teams“, fasst es Boes zusammen. Nur wenn sich jeder der Sache verschreibe, könne Scrum die gewünschten Früchte tragen. Eine Herausforderung – für sämtliche Mitarbeiter. Auch wer vorher keine Führungskraft war, kommt schließlich aus einem ganz anderen System. So missfällt dem einem die neue Offenheit durch die Daily-Scrums oder grundsätzlich die Arbeit in einem Team, während andere das Vorgehen in Sprints als unangenehm und Dauerstress wahrnehmen. Pikant ist zudem das Thema Expertenwissen. Für manche bislang eine Art Lebensversicherung, sollte in einem Scrum-Team niemand sitzen, der als Einziger auf einem Gebiet alles beherrscht. Denn fiele dieser aus, käme der laufende Sprint zum Erliegen – undenkbar im System Scrum. Andreas Boes hat bei vielen Unternehmen beobachtet, dass gerade ältere Mitarbeiter sich oft schwertun, ihr über die Jahre angesammeltes Wissen zu teilen. Funktioniert es jedoch, profitieren vor allem Jüngere mit weniger Berufserfahrung enorm. Ohnehin sehen diese in der Umstellung auf agiles Management oft die ersehnte Gelegenheit, aus dem starren Gefüge auszubrechen. Letztlich müsse es aber gelingen, alle mitzunehmen, mahnt Boes.
Wie gut das funktioniert, lässt sich aktuell kaum abschätzen. Bei vielen Unternehmen läuft die Umstellung noch oder steht erst am Anfang. Auch detaillierte Erkenntnisse, wie sich die neuen Methoden auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter auswirken, gibt es noch keine. Burnout-Beraterin Natascha Derbort vermisst aber schon in der Umstellungsphase eine bessere Unterstützung von Seiten der Unternehmen. Viele suchen stattdessen Hilfe in der Beratungsstelle. Sie rät: „Die Betroffenen sollten versuchen, das Positive an der Umstellung zu sehen, selbst wenn es sich für sie nach einem Verlust ihrer Autorität anfühlt.“ Manche dürften sich allerdings wohl nur schwer daran gewöhnen, fürchtet sie. Am Ende verhält es sich wie beim Sport: Auch Rugby ist nichts für jeden.
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