Das menschliche Herz könne man sich vielleicht wie ein Haus mit vielen Räumen vorstellen, sagt Klara. Und in jedem Raum ist ein weiterer Raum. Lauter Räume in Räumen in Räumen. Ist es möglich, alle Räume zu erkunden?
In Kazuo Ishiguros neuem Roman Klara und die Sonne geht es um nicht weniger als um die Frage, ob der Mensch einzigartig ist - und um die Angst davor, er könnte es nicht sein. Die Erzählerin heißt Klara und ist ein menschenähnlicher Roboter, der auf künstlicher Intelligenz basiert. Kann eine solche KF, eine "künstliche Freundin", das menschliche Wesen in vollem Umfang simulieren? Oder bleibt ein Rest unerschlossen? Die Handlung ist in einer nicht näher definierten Zukunft in den USA angesiedelt. Dort sollen KFs Kindern Gesellschaft leisten. Klaras Kind ist die 14-jährige, schwer kranke Josie. Sie lebt mit ihrer Mutter und einer Haushälterin einsam zwischen Hügeln und weiten Feldern. Nur ein Haus grenzt an das Grundstück der Familie an. Der Nachbarsjunge Rick ist Josies einziger menschlicher Spielgefährte.
Der Leser lernt die Welt aus Klaras Augen kennen. Ihr Bewusstsein ist ähnlich dem eines Menschen, es gibt aber Unterschiede: Das Gehirn filtert Wichtiges von Unwichtigem. Klara dagegen nimmt Unmengen an geometrischen Formen wahr. Es kostet sie viel Mühe, diese zu deuten. Weil ihr Intuition fehlt, muss sie ständig analysieren. Als sie sieht, wie zugewandt Josie Rick gegenüber ist, versucht sie, die "Muster" nachzuvollziehen, mit denen sich Rick in Josies Leben einfügt. Je mehr sie beobachtet, desto menschlicher wirkt Klara. Sie ist wie ein Kind, das dazulernt. Nicht nur Josie schließt Vertrauen. Auch die Mutter blendet bald Klaras nichtmenschliches Wesen aus und akzeptiert sie als Teil der Familie.
Unterwürfigkeit bis zur Selbstaufgabe ist nicht zum ersten Mal ein zentrales Motiv des japanisch-britischen Literaturnobelpreisträgers. Ähnlich dem Butler James Stevens in Was vom Tage übrig blieb von 1989 "lebt" Klara vor allem für die Pflicht. Interessant ist dabei die Ambivalenz, mit der der Leser auf die Erzählerin blickt. Je mehr er Klara als menschenähnlich begreift, desto unwohler wird ihm bei der Rolle, die sie in der Gesellschaft einnimmt.
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