Der Berliner Oberstaatsanwalt legt den Finger in viele Wunden der deutschen Justiz, nennt die Zustände „katastrophal". Knispel will mit Transparenz verhindern, dass sich noch mehr Menschen Populisten oder Bürgerwehren anschließen und vom Rechtsstaat abwenden. Das Hauptproblem ist der eklatante Personalmangel: Der „Systemkollaps" beginne bei der Polizei, es gebe mehr als 190.000 unvollstreckte Haftbefehle. Polizei und Justiz seien „über Jahrzehnte systematisch kaputtgespart" worden. Die Folge: zahlreiche eingestellte Verfahren, U-Haft-Entlassungen von dringend Tatverdächtigen, unzählige Altverfahren, die sich bundesweit in den Gerichten stapeln.
Es gibt ein Nord-Süd-GefälleDauert ein Verfahren überdurchschnittlich lange, fällt die Strafe milder aus. So will es das Gesetz. Knispel beschreibt hier ein Nord-Süd-Gefälle: In Süddeutschland gebe es schnellere Verfahren und härtere Urteile. Kopfschüttelnd schildert der Oberstaatsanwalt die „Ökonomisierung der Rechtsprechung": Bundesweit habe sich die Justiz von Wirtschaftsprüfern beraten lassen. Jetzt gebe es für jedes Verfahren minutengenaue Vorgaben, an denen sich der Personalschlüssel der Gerichte orientiere. Doch jedes Verfahren sei unterschiedlich. Der Personalmangel der Justiz wird sich bis 2030 noch verschärfen, da 40 Prozent der Richter und Staatsanwälte pensioniert werden. Besonders dramatisch ist die Lage in Ostdeutschland, wo ab den 2000er Jahren lange kaum neue Juristen eingestellt wurden. Die baldige Pensionierungswelle trifft diese Bundesländer daher besonders hart - ein fatales Missmanagement.
Viele Kritikpunkte sind längst bekannt. Trotzdem bietet Knispels Buch wichtige Einblicke in die Arbeitsrealität - und zerstört Illusionen aus dem ARD- Tatort, wo Rechtshilfeersuchen im Ausland und Analysen der Kriminaltechnischen Untersuchung (KTU) binnen Tagen erledigt sind. Allein in Berlin, schreibt Knispel, liegen Zehntausende unerledigte Aufträge. Auf Ergebnisse müsse man oft Monate warten. Die Kooperation mit ausländischen Behörden verlaufe häufig im Sand, sodass international organisierte kriminelle Banden ein leichtes Spiel haben. Nur 2,6 Prozent der Einbrüche landeten in Deutschland vor Gericht. Auch bei der technischen Ausstattung hapere es gewaltig. Viele Geräte seien alt, die meisten Berliner Staatsanwaltschaften hätten erst Ende 2020 Laptops bekommen. Mehrere Bundesländer hätten massive Sicherheitslücken. Man sei „abgekoppelt" von der Moderne - dabei soll 2026 die elektronische Akte eingeführt werden.
Knispels Galgenhumor zeigt sich, wenn er über die schlechte Bausubstanz vieler Gerichte schreibt, dass „nicht nur das Ansehen der Justiz bröckelt". In seinem Jura-Weltbild verrennt sich der Staatsanwalt, wenn er das Kirchenasyl als außerhalb der Rechtsordnung stehend kritisiert und fordert, die Ordnungswidrigkeiten von klimabewegten Schülern zu verfolgen, die freitags gegen die Schulpflicht verstoßen. Die Lösungsvorschläge des Oberstaatsanwalts sind so naheliegend wie unrealistisch: mehr Geld für Personal, technische Ausstattung und Sanierungen. Allein der Sanierungsbedarf der baulichen Substanz liegt bei den Justizbehörden im dreistelligen Millionenbereich. Das Volumen des „Pakts für den Rechtsstaat" der GroKo gehe da weit am Bedarf vorbei. Ohne angemessene Lösungen werde der Rechtsstaat weiter erodieren. Nach der Lektüre kann man da kaum widersprechen.
Rechtsstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm Ralph Knispel Ullstein 2021, 240 S., 22,99 €
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