Hast du die Papiere?", schreie ich Youssouf auf Englisch am Telefon an. „Nein? Wo zur Hölle bist du? Verstehst du eigentlich, um was es geht?" „Gib mir mal", sag Ahmad ruhig und nimmt mir das Handy aus der Hand. Ich verjage eine Taube, die mich dämlich anglotzt und darauf wartet, dass ihr ein Stück meiner Pizza zufällt. Als ich vor einer Woche anfing, an dieser Reportage zu arbeiten, war längst nicht klar, was für ein dramatisches Ende die Geschichte noch nehmen würde.
DIENSTAG, 25. JULI Ahmad, Youssouf und ich sitzen um den Esstisch in meiner WG, saugen Spaghetti auf, die Youssouf gekocht hat. Er hat eine witzige Art, Spaghetti zu kochen. Er nimmt eine Pfanne, packt Nudeln rein, Wasser drüber, eine Prise Salz und alles zusammen auf den Gasherd. Ahmad und ich kringeln uns jedes Mal vor Lachen, während Youssouf beschwichtigt: „Vertraut mir, ich habe über ein Jahr eine eigene Bude in Kamerun gehabt. Nur Spaghetti und Omelette. Ist aber schon lange her."
Ahmad und Youssouf sind Flüchtlinge (auch wenn Ahmad das Wort nicht gerne hört und Youssouf eigentlich anders heißt). Sie wohnen bei mir. Vorübergehend. In meiner WG in Kreuzberg, zwischen Spätis und Hipster-Cafés. Ich teile mir hier mit Toni, einer guten Freundin, ein Zimmer. Es ist eine Studentenbruchbude in der x-ten Generation. An den Wänden hängen Poster von vergangenen Raves, ein loses Schwarzlicht baumelt vom Schrank. Unter die Decke hat Toni eine alte Computertastatur gehängt - „Kunst", wie sie behauptet. Auf dem Boden liegen zwei Matratzen, eine große doppelte und eine einfache Schaummatratze. In der Mitte ein runder Gartenplastiktisch mit einem semi-appetitlichen gelben Tischtuch, auf dem immer Tabakkrümel liegen. Manchmal, wenn ich hier sitze und mir eine Zigarette drehe, denke ich, dass Häuser wie Bücher sind. Die die Geschichten ihrer Bewohner sammeln. Ahmad und Youssouf, ein neues Kapitel.
Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Klar, beide laufen weg. Ahmad vor dem Krieg, Youssouf vor dem Leben, vor der Armut, der Verantwortung, den Menschen, die ihm Böses wollen. Ahmad kommt aus Damaskus, Syrien. Youssouf aus dem Tschad. Ahmad ist zielstrebig, weiß, wo er hinwill. Sein Weg ist - mit Unterbrechungen - wie mit dem Lineal gezogen. Er betet zu Gott, weiß aber, dass nur er selbst sein Leben in der Hand hat. Und das von viel mehr Menschen gleich noch dazu. Wie vielen er geholfen hat zu fliehen? Er weiß es nicht mehr, sagt er. Für seine Freunde hat er Schlepper gebucht und kontaktiert, hat Verstecke in der Türkei, Griechenland und Bulgarien ausgekundschaftet. 150 Menschen hat er durch makedonische Wälder gelotst, als die teuer bezahlten Anführer erst die Orientierung und dann den Verstand verloren hatten.
Youssouf hatte sein Leben nie in der Hand. Er ist unsicher. Verdammt unsicher, er zuckt schon zusammen, wenn ihn jemand anspricht. Wenn die Leute glauben, ihn anschreien zu müssen, statt langsamer zu reden, wenn er nicht gleich versteht. Als hätte er Tomaten auf den Ohren. Was soll er denn sagen? Er kann ja nicht mal schreiben, nicht lesen. Mit seinen acht Geschwistern hat er Schafe durch die Wüste getrieben, hat nie eine Schule von innen gesehen. Was erwarten die Leute von ihm, mit seinem bisschen Straßenenglisch, das er zwischen Lampedusa und Berlin aufgeschnappt hat. Youssouf lächelt dann immer verlegen, schüttelt seine schwarzen Locken und geht weg. Was soll er auch tun? Wie soll er sich wehren? Sein Leben lang schon wird er herumgeschubst wie ein Stück Holz in der Brandung. Er kennt es nicht anders. Sein Weg ist keine gerade Linie, mehr das Gekritzel eines Kleinkinds, das die Buntstifte einfach nicht weglegen will. Inshalla, sagt Youssouf immer wieder. So Gott will. Verantwortung für sein Leben tragen andere - die Schlepper, die Behörden, ein bisschen jetzt auch ich.
MONTAG, 20. JULI Mein Telefon klingelt. „Fazila Schlafplatz" lese ich auf dem Display. „Bartholomäus, hast du heute noch Kapazität?", ruft Fazila mit ihrer Piepsstimme aus meinem Handy, als ich noch in der Redaktion sitze und einen Sommer-in-Berlin-Text in den Computer hacke. „Tut mir leid", sage ich, „unsere Wohnung ist eigentlich voll. Ahmad schläft bei mir, Toni sowieso." - „Es ist dringend", sagt Fazila, „bitte, kannst du nichts machen?"
Eine Stunde später stehe ich auf dem Oranienplatz, da kommt Fazila schon aufgeregt auf mich zugelaufen. Unter dem Arm ein abgegriffener Ordner voller zerknitterter Excel-Tabellen mit Namen, Handynummern, Adressen. Eine Gruppe Roma-Mädchen in kurzen Kleidchen macht eine Polonaise über den Platz, zwei dicke Frauen in viel zu engen roten Tops sitzen auf einer der Bänke und schlecken ihr Softeis. Auf den Bänken daneben Schwarze, Araber, manche spielen Karten, manche brüllen sich an.
Etwas abseits sitzt ein schmächtiger Junge, Füße an den Körper gezogen, zusammengefaltet wie ein Blatt Papier. Die Röhrenjeans schlabbert an den dünnen Beinen, die dunklen Augen starren ins Leere. Gleich wird Fazila mich zu ihm führen und mir Youssouf vorstellen. „Er ist heute das erste Mal hier - kannst du ihm helfen?" Youssoufs Gesicht ist ausdruckslos. Keine aufflackernde Hoffnung, keine Freude. Wie auch? Dass er gerade aus dem Heim geschmissen wurde, dass er die letzten zwei Tage draußen auf dem Alexanderplatz geschlafen hat, werde ich erst später erfahren.
Zum Oranienplatz ist er nur durch Zufall gekommen. Zu Fazila. Zur Schlafplatz-Orga, einer kleinen Aktivistengruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, obdachlose Flüchtlinge von der Straße zu sammeln, Schlafplätze für sie zu finden. Im Kampf gegen die Obdachlosigkeit, nur bewaffnet mit dem alten Ordner, ein paar Telefonen und etwas Kleingeld für Bustickets - das ist aber eigentlich immer alle. Sie machen das nicht aus Spaß, sondern weil sich sonst niemand drum kümmert.