19.12.2017 · Wie ist das, wenn es wochenlang dunkel ist, und wie baut man da Häuser und wie fährt es sich auf Schnee? Eine Reise ans Nordkap
D iese Reise ist eine Flucht in den Schnee und in die Dunkelheit. Von Oslo aus geht es mit dem Zug, dem Bus, dem Schiff nach Norden, bis ans Nordkap, immer weiter in die dunkle Jahreszeit hinein. Um unterwegs Menschen auszufragen, wie sie die mørketid, die Dunkelzeit, überstehen.
„Bei seinen über 80 Winterbildern ging es Edvard Munch um das Malen von Licht", sagt Petra Pettersen. Sie kuratierte 2012 im Osloer Munch-Museum die Winterbilder-Ausstellung „Fornemmelser for snø - Gespür für Schnee". Im Museum zeigt sie die Winterbilder des Malers. Munch malte mit viel Weiß, mit Zinkweiß, Bleiweiß, Lithopone, weiß Pettersen. Sehen Sie den Winter anders, seit Sie sich mit Munch beschäftigt haben? „Oh ja! Ich war mit Skiern unterwegs und fuhr in eine Schneise im frisch verschneiten Wald. Da dachte ich wirklich, ich laufe durch das Bild ,Ny snø'."
Am Morgen geht es um acht Uhr mit dem Zug nach Trondheim. Der Himmel bleibt lange rosa. Die Sonne geht im Norden langsam auf und unter, nicht wie in Äquatornähe, wo sie abends um sechs Uhr ins Meer ploppt und sofortige Dunkelheit nach sich zieht.
Eine Frau mit Teleskopwanderstöcken steigt zu, sie hängt eine hellblaue Daunenjacke an den Haken. Sie hat kurze, graue Locken, so zart wie Eiderentenkükenbauchflaum. Sie packt ihr Strickzeug aus, mehrere blaue und rote Knäuel, und strickt am Ärmel eines Pullovers. Sie strickt wirklich ein Norwegermuster.
Die Hovedbane war 1854 Norwegens erste Eisenbahnstrecke. Um Lillehammer stehen schon Berge, an einem Flussufer liegen schwarze Felsen mit dünner Schneeschicht, wie Brocken von Luftschokolade mit Puderzucker bestäubt. Nebel zieht auf. Aber erst der sorgt für Rauhreif, der sich als Kristallschmuck an die Äste hängt.
Hier gibt es keinerlei Anzeichen von Herbst mehr. Kein Blatt mehr an den Birken, Felder und Wiesen liegen strohfarben, Bäche tragen eine grisselige und lückenhafte Eishaut. Im Dovre-Nationalpark ist die Landschaft eine Lithographie, alle Farben sind entwichen. So schön und elegisch das Zugfahren ist, man fühlt sich eingesperrt, während die allerschönste Landschaft vorüberzieht.
In Berkåk ist es dann wirklich Winter: rote Häuser mit einer dicken Schicht von Schnee auf dem Dach. Batzen von Schnee auf den Bäumen, Norden plus Höhe ist gleich früher Winter. Aber Norden minus Höhe ist grau: In Trondheim, am Meer gelegen, ist kein Fitzelchen Schnee zu sehen. Mau liegt die Stadt am Fjord.
Hildonen stammt aus Vadsø, ganz im Nordosten. Sein Vater war Jäger, „wir hatten drei Gefriertruhen im Haus, die wurden gefüllt, so kam man durch den Winter."
Am nächsten Morgen ist es um halb acht Uhr stockfinster, vor dem Zugfenster Regen, im besten Fall Schneeregen. So macht Winter keinen Spaß. Im Binnenland warten Wälder. Schwerer Schnee zieht den Bäumen die Äste auf den Boden. Und doch vermittelt der Schnee ein ganz anderes Grund- und Lichtgefühl. Schnee macht den Winter hell.
Menschen in dicken Arbeitsanzügen hantieren an Traktoren, Hauslichter brennen Tag und Nacht. An der Biegung eines schwarzen Flusses steht ein rotes Häuschen, genau eins. Man möchte hinüberstapfen durch den knietiefen Schnee, Holz hacken, aufsperren, bleiben. Für zwei Wochen.
Die Nordlandsbanen fährt bis Bodø, dem nördlichsten Bahnhof, der von Oslo aus zu erreichen ist. Große Teile der Strecke bauten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt: Kriegsgefangene aus Osteuropa verlegten die Gleise.
Am ersten Tag, wenn die Sonne wieder aufgeht, gibt es in ganz Bodø Solboller, Sonnenbrötchen, „ditt sin Pfannkuchen", sagt Lehmann. „Man will's ja nicht so zulassen, aber es ist ein emotionaler Moment, wenn die Sonne kurz zu sehen ist." So richtig habe er sich nie an die Dunkelheit gewöhnen können. „Die Motivation geht echt gegen null. Ich nehme alle meinen freien Tage im Winter am Stück. Und dann fliege ich nach Brandenburg und nach Dubai."
Abend an der Mole, einige Jogger sind noch unterwegs, sie tragen Leuchtpunkte an der Laufkleidung, das sieht aus wie Bewegungsstudien für Animationsfilme. Über den tiefgefrorenen Schnee geht es sich holprig. So schön wie im tiefsten Winter. Oder: wie barfuß am Strand.
Um 7:15 Uhr geht es weiter, immer Richtung Norden. Der Busfahrer ist ein Rockabilly, trotz der Uniform, weißes Hemd, blaue Hose, blauer V-Ausschnitt-Pullover, blaue Krawatte, die grauen Haare nach hinten gegelt. In den Pausen hängt die Zigarette im Mundwinkel, so raucht er. Er sucht einen Sender, findet Oldies. „A winter's dayayhay . . ."
Das Schönste am Busfahren sind: die Fährüberfahrten! Die Fähre gleitet in den Ofotfjord, links, im Westen, tauchen die senkrechten Gipfel der Lofoten auf, gleißend hell, weiß, volle Sonne, was eben drin ist. Wie Eisberge ragen sie aus dem bleigrauen Fjord auf. Beim nächsten Halt plaudern zwei Busfahrer miteinander, ich verstehe nur: Ägypten, Pyramiden, Kamele. Da zieht es wohl einen in die Sonne.
Eisemann, gebürtiger Würzburger und Professor für Psychologie an der Universität Tromsø, lebt seit vierzig Jahren in Nordskandinavien. Er müsste am besten wissen, wie sich die Polarnacht auf die Psyche auswirkt. Wie ist das mit der Winterdepression? „Mhm, Winterdepression, man sollte nicht leichtfertig mit dem Wort umgehen. Depressionen sind eine Krankheit. Gemeint ist wohl værsyk - wetterkrank, so etwas wie bei Föhnempfindlichen in Bayern."
Zur Winterdepression gebe es keinerlei empirische Daten. Je nördlicher man nach Norwegen kommt, desto mehr freuten sich die Leute auf den Winter. Tatsächlich - Eisemann zieht eine Statistik hervor - werden in Oslo doppelt so viele Selbstmorde pro 100.000 Einwohner verzeichnet wie im Norden. Ein Kollege habe 40 Jahre dazu geforscht und keine Belege für Winterdepression gefunden.
„Man kompensiert", sagt Eisemann. Trifft sich mit Freunden, macht es sich zu Hause koselig - gemütlich. „Man zündet Kerzen an, und auch die Straßen sind viel heller als die Funzeln in Berlin." Außerdem gebe es oft Fisch, so bekomme man mehr Vitamin D. „Und Dr. Möllers Tran gibt es in jedem Supermarkt. Es schmeckt auch nicht mehr so scheußlich wie der Lebertran unserer Kindheit."
Allerdings sorge ein Zuviel an Melatonin für Einschlafstörungen. Das Hormon wird in der Dunkelheit gebildet. Und wer schlecht einschläft, komme morgens schlecht aus dem Bett. So gab es in Tromsø schon 1870 einen Dunkelzeitstundenplan. „Die Schule fing später an. Das wurde in den 1970ern rückgängig gemacht, weil Oslo fand, die im Norden sollten keine Extrawurst haben."
Am späten Nachmittag startet der Bus nach Alta. Der Schnee glitzert im Fernlicht auf den einsamen Straßen in der verwehten baumlosen Landschaft. Wenn ein anderer Bus entgegenkommt, setzen die Busfahrer kurz den Blinker, ein Zuwinken im Winter. Kurz nach der Hochebene Gildetun steigt ein Mädchen zu, eine Frau hat es zum Bus gebracht. Und eine halbe Stunde später steigt es an einer Straßenkreuzung aus, alleine, mit dicker Jacke und dem Schulranzen, wohl für die kommende Woche gerüstet. Die vielleicht Achtjährige geht alleine in die Nacht, eine Nebenstraße entlang. Gerade noch ist zu sehen, wie sie ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche holt. Es wird sie doch hoffentlich jemand abholen.
Einen Fahrerwechsel später sitzt noch genau ein Gast im Bus. Wer fährt schon im Winter in den Norden. Das Busthermometer zeigt minus zehn Grad, das Meer bleibt eisfrei. Dorschtrockengestelle stehen am Ufer, in einem Fjord sind riesige runde Kreise zu sehen, eine Lachszucht. Überm schwarzen Meer hängen tiefe, fasrig dunkle Wolken. Eine Stunde lang scheint die Sonne hier noch am Tag.
Oder trägt Sneaker und kurze Socken, so dass die Knöchel in die arktische Luft gucken. Wie Anita Holmgren, 18. Sie singt im Musical „Our Northermost Life". Das wird im Sommer in Honningsvågs Kulturhaus Perleporten aufgeführt. Holmgren war ein Jahr in Australien, viele junge Leute gingen weg - und kehrten zurück. „Im Sommer sind wir kein kleines Dorf", täglich legt das Hurtigruten-Schiff an, und deutsche Wohnmobile schieben sich durch den Nordkaptunnel in den Ort. Und im Winter? „Es gibt ein reichhaltiges soziales Leben, man muss einfach selbst etwas auf die Beine stellen. Ich werde bestimmt im Norden leben. Wir vermissen die dunkle Zeit, wenn wir weg sind, wie andere in den Tropen die Jahreszeiten vermissen."
Am Nordkap. Nur jetzt kann man alleine unter dem stählernen Globus stehen, dem sonst umdrängten Wahrzeichen. Alle Zeit der Welt, aufs Meer hinaus zu schauen. Richtung Norden kommt lange nichts, dann Spitzbergen, dann der Nordpol. Noch immer liegt dieses unwirkliche blaue Licht über der Landschaft. Einige felsige Inseln sind auszumachen, schwarz im Wasser, weiß bepudert. Ein paar Touristen haben sich losgeeist von Waffeln und heißer Schokolade im Nordkapzentrum. Fotos, Selfies. Dann kommt Wind auf, peitscht den losen Schnee durch die Luft, sticht ins Gesicht. Winter is coming.
Der Weg ans NordkapAnreise: Flüge nach Oslo zum Beispiel mit Norwegian, ab Berlin-Schönefeld (ca. 80 Euro, www.norwegian.com). Ab Hamburg fliegt Eurowings (ca. 100 Euro, www.eurowings.com). Ab Frankfurt und München fliegen SAS und Lufthansa (ab ca. 110 bzw. 190 Euro, www.flysas.com, www.lufthansa.com). Unterkunft: In vielen Städten unterwegs gibt es ein Thon-Hotel, www.thonhotels.com, moderne, freundliche Häuser, DZ/F ab etwa 1000 Norwegische Kronen (ca. 103 Euro). Reisen: Ab Olso kommt man mit dem Zug bis nach Trondheim ( www.nsb.no). Ab Trondheim geht es mit verschiedenen Busunternehmen weiter. Fahrkarten kauft man unkompliziert im Bus. Weitere Informationen: auf der Website des Norwegischen Fremdenverkehrsamtes: www.visitnorway.de Zum Nordkap unter www.visitnordkapp.net
Hinweis der Redaktion: Zum Teil wurden die Recherchereisen für diese Ausgabe von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien oder Fremdenverkehrsämtern unterstützt. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Texte.