Der Lienzer Schuldirektor Johannes Moritz sieht in Flüchtlingskindern die Chance, das langsame Aussterben Osttirols zu verhindern.
Am dritten Schultag, einem Freitag im September, sitzt Johannes Moritz in der Pfarrkirche zur Heiligen Familie und freut sich wie ein kleines Kind. Der Direktor der Michael-Gamper-Volksschule in Lienz wurde "zum Glück religionslos" erzogen, trotzdem ist das eine besondere Messe. "Den Schritt, den der Pfarrer heute gegangen ist, den würden nicht viele Katholiken gehen", sagt er. In diesem Jahr hat er auch die muslimischen Kinder begrüßt, er hat sie gesegnet und das Kreuzzeichen weggelassen. Er hat von Abraham gesprochen, bei dem Christen und Muslime zusammenkämen. "Es tut sich etwas in Lienz", denkt Johannes Moritz, eckige Brille, runder Bauch, in solchen Momenten. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie, ist hier aufgewachsen und kennt Osttirol, den Hinterhof Österreichs, genau.
Erst zwei Tage zuvor hat der 56-Jährige, der seit 26 Jahren Schulleiter ist, einen Anruf erhalten: Flüchtlingskinder sind in Lienz eingetroffen, untergekommen in einem aufgelassenen Traditionsgasthaus, dem Neuwirt in der Schweizergasse. Ob der Direktor sie in seiner Schule aufnehmen könne, fragt die Beauftragte für Flüchtlinge. Sofort sagt er für ein afghanisches Geschwisterpaar zu, acht und sieben Jahre alt. Jawad und Mariam Rahimi sind zwei von 200 in Lienz untergebrachten Flüchtlingen und zwei von rund 5.000 Flüchtlingskindern, die in diesem Jahr in Österreich eingeschult werden.
Unvorbereitet und kurz vor Schulbeginn war die Michael-Gamper-Schule mit einer neuen Situation konfrontiert, einer Herausforderung. "Und einer großen Chance", sagt Johannes Moritz. Denn Jawad und Mariam, die beiden Kinder aus der Fremde, sind für ihn eine Bereicherung für das alternde Lienz.
Es steht nicht eben zum Besten um die Stadt mit ihren 12.000 Einwohnern, noch trister sieht die Zukunft für den ganzen Bezirk aus. Seit Jahren kämpft man gegen Abwanderung, 2030 könnte der Bezirk statt 50.000 nur noch 35.000 Einwohner haben, die im Schnitt 70 Jahre als sein werden. Gut Ausgebildete ziehen wegen fehlender Arbeitsplätze fort. Nur knapp mehr als vier Prozent Ausländer leben im Bezirk. Die Arbeitslosenrate liegt mit zehn Prozent über dem österreichischen Durchschnitt.
Dass die Guten gehen, weiß Johannes Moritz aus eigener Erfahrung. Seine früheren Freunde, heute Universitätsprofessoren oder Rechtsanwälte, haben Lienz verlassen. Von den 74 Kindern, die in seinem Wohnblock aufgewachsen sind, ist kaum mehr jemand da. Auch seine eigenen, eine Psychologin, ein Wirtschaftsingenieur, ein Sozialpädagoge, sie sind alle fort. Mit der höheren Bildung wandere auch vieles andere ab, sagt der Direktor mit dem kahlen Kopf. "Was bleibt, ist die Bodenständigkeit, die Tradition."
Und die Engstirnigkeit. "Die Osttiroler sind einfache Menschen", sagt Moritz. Als Musiker, der einen Männerchor leitet und mehrere Instrumente spielt, darunter Gitarre, vermisst er andere Töne. Selten sei ein Live-Jazz zu hören. Im konservativen Milieu von Lienz mache Andersartigkeit vielen Angst.
Als Direktor der Michael-Gamper-Schule, deren Schüler er selbst war, ist Anderssein für Johannes Moritz nichts Fremdes. Die meisten Sozialwohnungen fallen in seinen Sprengel, er hat die sozial Schwächsten der Stadt an seiner Schule. Luxusprobleme wie an der Volksschule Nord kennt er nicht.
Vergangenes Jahr hat Johannes Moritz um eine zusätzliche Stelle angesucht, zur Unterstützung lernschwacher Schüler. Von Flüchtlingen war damals noch keine Rede. Die Mail schickte er ab mit dem Betreff: "VS Michael Gamper: Ein herausfordernder Arbeitsplatz". Kurz vor Schulbeginn kommt die Zusage. Er freut sich, da er nun auch die Flüchtlingskinder fördern kann. Und nicht nur sie: Neben den afghanischen Geschwistern sind zwei weitere Kinder eingeschult worden, die kein Wort Deutsch sprechen, dazu kommen allein in den ersten Klassen vier Schüler mit einer Deutschschwäche.
Doch am ersten Schultag die böse Überraschung. Moritz öffnet seine Mailbox und sieht eine Nachricht: Das Land Tirol will nur noch eine halbe Stelle genehmigen. In solchen Momenten bringt ihn das System zum Verzweifeln. Es sei nicht vorbereitet auf die neue Herausforderung, die durch die Flüchtlingskinder auf die Schulen zugekommen sei, zumindest nicht an Orten wie Lienz.
Derweil weichen Jawad und Mariam einander nicht von der Seite. Sie orientieren sich an den anderen Kindern und lernen schnell. Die Klassenlehrerin der 1a bittet sie, ihren Namen auf ein Arbeitsblatt zu schreiben. Jawad schreibt seinen auf Dari. "Super, aber das können wir nicht lesen", sagt die Lehrerin und zeigt ihm, wie man den Namen in lateinischen Buchstaben schreibt. Da kommt der Direktor herein, in Jeanshose und Lederjacke.
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