Mein Gott, ich bin fünf Jahre alt, wir Juden sind wieder ein stilles Glück. Der Nachbar heißt wieder Olmo und schreit den halben Tag mit seiner Frau, und wer nichts Besseres zu tun hat, der kann sich hinter die Tür stellen und jedes Wort hören. Und die Straße hat wieder ihre Häuser, in jedem ist etwas geschehen mit mir. Ich darf sie nicht verlassen, die Straße, streng hat es mir der Vater verboten. Oft glaube ich nicht, womit er das Verbot begründet, manchmal aber doch: dass es eine Grenze gibt, eine unsichtbare, hinter der die Kinder weggefangen werden. Niemand weiß, wo sie verläuft, das ist das Hinterhältige an ihr, sie ändert sich wohl ständig, und ehe du dich versiehst, hast du sie überschritten. Nur in der eigenen Straße, das weiß der Vater, sind Kinder einigermaßen sicher, am sichersten vorm eigenen Haus. Meine Freunde, mit denen ich die Ungeheuerlichkeit bespreche, sind geteilter Meinung. Die immer alles besser wissen, die lachen, manche aber haben auch schon von der Sache gehört.
Ich frage: „Was geschieht mit mir, wenn sie mich fangen?" Der Vater antwortet: „Es ist besser, du erfährst das nicht." Ich sage: „Sag doch , was geschieht mir dann?" Er macht nur seine unbestimmte Handbewegung und will sich nicht mehr mit mir unterhalten. Einmal sage ich: „Wer ist es überhaupt, der die Kinder wegfängt?" Er fragt: „Wozu musst du das auch noch wissen?" Ich sage: „Es sind die deutschen Soldaten." Er fragt: „Die Deutschen, die eigene Polizei, was ist das für ein Unterschied, wenn sie dich fangen?" Ich sage: „Mit uns spielt aber jeden Tag ein Junge, der wohnt viele Straßen weit." Er fragt mich: „Lügt dein Vater?"
Ich bin fünf Jahre alt und kann nicht still sein. Die Worte springen mir aus dem Mund heraus, ich kann ihn nicht geschlossen halten, ich habe es versucht. Sie stoßen von innen gegen die Backen, sie vermehren sich rasend schnell und tun weh im Mund, bis ich den Käfig öffne. „Dieses Kind", sagt meine Mutter, die kein Gesicht mehr hat, die nur noch eine Stimme hat, „hör sich einer nur dieses Kind an, dieses verrückte."
Was geschehen ist, muss seltsam und unerhört gewesen sein, sonst lohnt es nicht darüber zu berichten. Am Ende habe ich den Kaufmann Tenzer umgebracht, nie werde ich es wissen. Er wohnt in unserer Straße und hat ein schwarzes Mützchen auf dem Kopf und trägt ein weißes Bärtchen im Gesicht, er ist der kleinste Mann. Wenn es kalt ist oder regnet, kannst du zu ihm gehen, er weiß Geschichten. Die abgebrühtesten Kerle sitzen stumm vor ihm und schweigen und halten den Mund und sind ganz still, auch wenn sie später ihre Witze machen. Doch mehr als vier auf einmal lässt er nie herein. Von allen hat er mich am liebsten: es tut gut, das zu glauben. Als er mich einmal gegriffen und auf den Schrank gesetzt hat, war er sehr stark, wir alle haben uns gewundert.
Der Vater sagt: „Wer setzt denn ein Kind auf den Schrank? Und überhaupt: was hockst du immer bei dem alten Tenzer, der ist wahrscheinlich nicht ganz richtig im Kopf." Ich sage: „Du bist nicht ganz richtig im Kopf." Da holt er aus, ich aber laufe weg; und als ich später wiederkomme, hat er es vergessen. Der Vater holt oft aus, schlägt aber nie.
Einmal bin ich mit allen verstritten und gehe zu Tenzer, noch nie war ich allein bei ihm. Als er mir öffnet, und keinen außer mir vor seiner Tür findet, wundert er sich und sagt: „So ein bisschen Besuch nur heute?" Er hat zu tun, er ist beim Waschen, doch schickt er mit nicht fort. Ich darf ihm zusehen, er wäscht anders als meine Mutter, bei der es immer bis in jeden Winkel spritzt. Er fasst die Unterhosen und die Hemden sanft an, damit sie nicht noch mehr Löcher kriegen, und manchmal seufzt er über ein besonders großes Loch. Er hält ein Hemd hoch über die Schüssel, und während es abtropft, redet er: „Es ist schon dreißig Jahre alt. Weißt du, was dreißig Jahre für ein Hemd bedeuten?" Ich sehe mich im Zimmer um, es gibt nicht viel zu sehen, nur eine Sache gibt es, die ist mir neu: Hinter der hohen Rückwand des Betts, auf dem Boden neben dem Fenster, steht ein Topf. Eine Decke hängt davor, dass man nichts sieht. Die Entdeckung wäre mir nicht geglückt, wenn ich nicht auf dem Boden gelegen und nicht vor Langeweile genau in jene Richtung geschaut hätte. Ich mache einen kleinen Umweg zu dem Ding hin, ich schiebe die Decke, die einem doppelt so Großen wie mir die Sicht versperren würde, zur Seite. In dem Topf wächst eine grüne Pflanze, eine merkwürdige, die einen heftig sticht, kaum dass man sie berührt. „Was tust du da?" schreit der Kaufmann Tenzer, nachdem er meinen Schrei gehört hat. Ein Blutstropfen liegt auf meinem Zeigefinger, ich zeige ihm mein dickes Blut. Den Finger steck ich in den Mund und sauge, da sehe ich Tränen in seinen Augen ich bin noch mehr erschrocken. Ich frage: „Was hab ich denn gemacht?" „Nichts", sagt er, „gar nichts, es ist meine Schuld." Er erklärt mir, wie die Pflanze funktioniert und von wie vielen Tieren sie aufgefressen worden wäre, wenn es nicht die Stacheln gäbe. Er sagt: „Du sprichst mit niemandem darüber." Ich sage: „Natürlich spreche ich mit keinem." Er sagt: „Du weißt, dass niemand eine Pflanze haben darf?" Ich sage: „Natürlich weiß ich das." Er sagt: „Du weißt, was jedem blüht, der ein Verbot missachtet?" Ich sage: „Natürlich." Er fragt mich: „Na, was mach sie mit dem?" Ich antworte nicht und schaue ihn nur an, weil er es mir gleich sagen wird. Wir sehen uns ein bisschen in die Augen, dann greift sich Tenzer ein Stück Wäsche aus der Schüssel und wringt es gewaltig aus. Er sagt: „Das machen sie mit ihm." Natürlich erzähle ich die Sache Millionen Leuten, den Eltern nicht, doch allen meinen Freunden.
Ich gehe wieder hin zum Kaufmann Tenzer, weil er mich seit jenem Tag mit seiner Pflanze spielen lässt, als wären wir Geschwister. Mir öffnet eine alte und fürchterlich hässliche Frau, dass jeder andere an meiner Stelle auch entsetzt gewesen wäre. Sie fragt mit ihrer gemeinen Stimme: „Was willst du hier?" Ich weiß, dass Tenzer immer allein gewesen ist, und eine solche hätte er schon gar nicht eingelassen: dass sie in seiner Wohnung ist, ist also noch erschreckender als ihr Aussehen. Ich laufe vor der Hexe weg und kümmere mich nicht um den Zauberspruch, den sie mir hinterherruft. Die Straße sieht mich kaum, so fliege ich, ich frage meine Mutter, wo Kaufmann Tenzer ist. Da weint sie, eben hat sie noch an ihrer Decke, zu der sie gehört, herumgestickt. Ich frage: „Wo ist er, sag es mir." Doch erst der Vater sagt es, als er am Abend kommt: „Sie haben ihn geholt." Ich bin inzwischen nicht mehr überrascht, Stunden sind vergangen seit meiner Frage, und oft schon haben sie einen geholt, der plötzlich'nicht mehr da war. Ich frage: „Was hat er bloß getan?" Der Vater sagt: „Er war meschugge." Ich frage: „Was hat er wirklich getan?" Der Vater verdreht die Augen und sagt zur Mutter: „Sag du es ihm, wenn er es unbedingt wissen muss." Und endlich sagt sie, wenn auch sehr leise: „Er hatte einen Blumentopf. Stell dir nur vor, sie haben einen Blumentopf bei ihm gefunden." Es ist ein bisschen still, ich leide, weil ich nicht sagen darf, dass dieser Blumentopf und ich Bekannte sind. Meine Mutter tropfen Tränen auf ihr Tuch, nie vorher hat Tenzer ein gutes Wort von ihr gekriegt. Sein Stück vom Brot nimmt sich der Vater wie jeden Abend nach der Arbeit, ich bin der eigentlich Betroffene hier, und keiner kümmert sich um mich. Der Vater sagt: „Was ich schon immer gesagt habe, er ist im Kopf nicht richtig. Für einen Blumentopf geholt zu werden, das ist der lächerlichste Grund." Meine Mutter weint nicht mehr, sagt aber: „Vielleicht hat er diese Blume sehr geliebt. Vielleicht hat sie ihn an eine Person erinnert, was weiß man denn." Der Vater mit dem Brot sagt laut: „Da stellt man sich doch keinen Blumentopf ins Zimmer. Wenn man schon unbedingt gefährlich leben will, dann pflanzt man sich Tomaten in den Topf. Erinnern an jemand kannst du dich tausendmal besser mit Tomaten." Ich kann mich nicht länger beherrschen, ich habe meinen Vater nicht sehr gern in diesem Augenblick. Ich rufe: „Es war gar keine Blume, es war ein Kaktus!" Dann laufe ich hinaus und weiß nichts mehr.
Die Mauer - Novelle von Jurek Becker
Der Dresdner Romanist Victor Klemperer beschrieb seine Lage als Jude im Juni 1942 so:
„Was ist in diesem letzten Jahr alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! Aus dem eigenen Haus vertrieben! Radioverbot, Telefonverbot. Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. Verbot, Zeitschriften zu abbonieren oder zu kaufen. Verbot, ,Mangelware' zu kaufen. Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. Verbot, Blumen zu kaufen. Entziehung der Milchkarte. Verbot, zum Barbier zu gehen. Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, von Pelzen und Wolldecken, von Fahrrädern, von Liegestühlen, von Hunden, Katzen, Vögeln. Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, den Bahnhof zu betreten, das Ministeriumsufer, Verbot, die Parks zu betreten. Seit dem 19. September der Judenstern. Verbot, Vorräte an Eßwaren im Haus zu haben. Verbot der Leihbibliotheken. Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Die Sondersteuern. Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde. Ich glaube, diese Punkte sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes."Quelle: Deutschlandfunk - Die legalisierte Menschenverachtung