Ein Günstling eines Sultans warf nach einem armen Derwisch, der ihn um ein Almosen bat, mit einem Stein. Der geschmähte Geistliche unterstand sich nicht, etwas dagegen zu sagen; hob aber den Stein auf und nahm ihn mit sich. „Über kurz oder lang", so dachte er, „werde ich gewiss einmal Gelegenheit bekommen, mich an diesem stolzen und grausamen Menschen mit dem nämlichen Stein zu rächen."
Einige Tage später hörte er ein großes Geschrei auf der Straße; er erkundigte sich und vernahm, dass der Günstling des Sultans in Ungnade gefallen sei. Der Sultan lasse ihn deshalb jetzt auf einem Kamel durch die Gassen führen und allen Vorwürfen und Beleidigungen des Volkes preisgeben.
Geschwind griff der Derwisch nach seinem Stein; kam aber bald zu sich, warf ihn in den Brunnen und sagte zu sich: „Jetzt fühle und weiß ich, dass man sich nie rächen muss. Denn ist dein Feind mächtig, so ist es unklug und töricht, ist er aber unglücklich, so ist es niedrig und grausam, sich rächen zu wollen."
Der beleidigte Derwisch - Rache - August Jacob Liebeskind