Frau Amtsrat Melanie Reißfleisch aus Wien wollte einen Untermieter aufnehmen und hatte zu diesem Zweck tags vorher die Studentenschaft angerufen. Vornehmes Gassenkabinett, elektrisches Licht, Bett, Pendeluhr, Schreibtisch, Universitätsnähe usw. Für nur 900 Schilling, ab sofort beziehbar ... Nun aber, an diesem Nachmittag, war sie doch ein wenig bedrückt, da sie fürchtete, man möchte ihr einen dunkelhäutigen Herrn zuschicken. Und das wäre besonders peinlich vor den Nachbarn und so weiter und so weiter. Vielleicht wären auch Kannibalen und Mädchenhändler unter ihnen, wie man ja nur zu häufig im Lesezirkel erfahren kann ...
Frau Amtsrat Reißfleisch und ihre Freundin Adele saßen diesen Nachmittag bei Kaffee und Mohnstrudel und warteten die kommenden Dinge etwas nervös ab. "Am liebsten", sagte Frau Amtsrat, "wär mir halt so ein solider Amerikaner, der zum Ersten pünktlich seinen Zins zahlen tut und nicht schnarcht. "Ganz recht, liebe Melanie", sagte Adele, "die Amerikaner sind halt die solidesten und Geld haben sie auch. Auf keinen Fall darfst du dir einen Araber, Perser oder gar Türken nehmen. Uns habe die schon viermal belagert. Die Klingel der Wohnungstür schrillte scharf und kriegerisch. Frau Amtsrat Reißfleisch richtete sich würdig auf, ging ins Vorzimmer, das zugleich als Besenkammerl diente, und öffnete die Tür einen Spalt.
"Ich komme wegen Kabinett. Ist noch frei, bitte? Mein Name ist Berislav Stojanovic".
"Sind Sie der Amerikaner, dem ich das Zimmer versprochen habe?" fragte die Frau Amtsrat durch den Türspalt. "Amerikaner?" meinte Stojanovic verfremdet ...
"Tut mir leid", sagte Frau Amtsrat kurz, "aber das Zimmer ist schon an einen Amerikaner vergeben!" Die Türe schlug kurz vor der Adlernase des langen Kroaten zu.
"Wer war's denn?" fragte Adele. Aber bevor Frau Amtsrat Reißfleisch noch eine Antwort erstatten konnte, klingelte es abermals.
"Ich komme wegen dem Zimmer. Ist das Zimmer noch frei, bitte? Mein Name ist Wassilis Liolakis".
"Sind Sie der Amerikaner, dem ich das Zimmer versprochen habe?" fragte Frau Amtsrat mit der gleichen diplomatischen Schläue wie vorher.
"Ich bin aus Ioannina und das ist in Griechenland und."... Die Tür krachte ins Schloss.
"Lauter Lutschen!" sagte Frau Amtsrat zu ihrer Freundin Adele und wollte seufzend in ein Stück Mohnstrudel beißen, als es abermals, nun aber sanft und bescheiden klingelte. Frau Amtsrat war jedoch schon gewitzigt und sah dieses Mal nur durch das Guckloch auf den Gang hinaus. Draußen stand ein gut aussehender Inder mit pechschwarzem Vollbart und Turban, und in seinen dunklen Augen lag eine tiefe Traurigkeit. Er wusste wohl schon, dass er dieses billige Kabinett mit Gassenaussicht niemals bekommen würde.
"Wer war's denn?" fragte Adele mit klopfendem Herzen. Sie hatte keine Tür gehen gehört. Es musste was Schreckliches draußen gestanden haben. Frau Amtsrat seufzte jetzt wirklich, biss in das angefangene Stück Mohnstrudel und meinte pikiert: Jetzt schicken sie einem sogar schon Menschenfresser in die Wohnung. Ich werde mich bei der Vermittlung gehörig beschweren!"
Nach einer Weile ging im Vorzimmer alias Besenkammer das Telefon. Frau Amtsrat Reißfleisch sprach eine Weile. Dann kam sie strahlend und zufrieden zu Adele zurück, die ihrerseits gerade ein neues Stück Mohnstrudel begonnen hatte und kaute.
"Wer war's denn, Melanie?" fragte Adele.
"Gott sei Dank", sagte Frau Amtsrat, "das nette Fräulein Elfi von der Studentenvermittlung hat angerufen. In einer halben Stunde kommt ein amerikanischer Herr wegen dem Zimmer. Und stell dir vor: James Eisenhover heißt er! Ich hab natürlich sofort fest zugesagt. Der bekommt das Zimmer und kein anderer, so wahr ich die Frau Amtsrat Melanie Reißfleisch geborene Krauthaupt bin!"
Nach exakt einer halben Stunde läutete es an der Wohnungstür. Sanft, bescheiden, nicht ohne einer gewissen Distinktion. Frau Amtsrat erhob sich mit einem bärenzuckersüßen Lächeln und öffnete weit und einladend die Tür ... Ein freundliches "Grüßgott!" erstarb jedoch in ihrer amtsrätlichen Kehle.
"My name is Eisenhover", sagte der dezent gekleidete Gentleman und trat ein. Aus seinem kohlschwarzen Gesicht blitzte ein tadelloses, freundliches Gebiss ... "Ich kommen wegen dem Zimmer"., sagte er.
Keine Menschenfresser - Bitte - Geschichte von Hans Carl Artmann