DIE ZEIT: Herr Müller, Berichte über miserable Zustände in sorgen immer wieder für Spott und Häme. Am Tag der Bundestagswahl wurden falsche Stimmzettel in Wahllokale geliefert, am Hauptstadtflughafen BER stehen Passagiere stundenlang in Schlangen. Selbst Verstorbene können noch an Berlins Verwaltung scheitern, wenn ein Friedhofsamt eben mal ein paar Wochen Betriebsferien macht und alle Bestattungen aussetzt. Gibt es eigentlich auch irgendetwas in Berlins Amtsstuben, das hervorragend funktioniert?
Michael Müller (SPD)
57, ist seit 2014 Berlins Regierungschef. Am 21. Dezember übernimmt Franziska Giffey (SPD) das Amt. Müller wechselt in den Bundestag.
Michael Müller: Natürlich, ich nenne Ihnen gleich zwei Dinge. Wir haben bundesweit die schnellsten Finanzämter. Und in der Flüchtlingskrise hat unsere Verwaltung Gigantisches geleistet: Zehntausende Geflüchtete aufgenommen und integriert. Von den übrigen 40.000 Zuzüglern, die pro Jahr neu in die Hauptstadt kommen, ganz zu schweigen.
ZEIT: Hier läuft also doch einiges prima, sagt Herr Müller. Was meinen Sie, Frau König, Herr Lympouridis und Herr Knispel - auf einer Skala von null bis zehn: Wie gut funktioniert der Staat in Berlin? Null: Totalausfall. Zehn: alles super.
Dagmar König: Eins von zehn.
Konstantinos Lympouridis: Vier.
Ralph Knispel: Mit Blick auf meinen Bereich, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit: 1,5.
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ZEIT: Und Sie, Herr Müller?
Müller: Ich gebe uns sechs von zehn.
Dagmar König
49, ist Gesellschafterin einer Autohausgruppe mit Sitz in Berlin, die bundesweit mehr als 1000 Beschäftigte hat.
König: Wie bitte? Da muss ich jetzt mal aus meinem Leben erzählen. Ich bin Gesellschafterin eines Autohauses, das deutschlandweit 58 Standorte hat, davon 18 in Berlin. Schon von Berufs wegen bin ich mit vielen Ämtern in Kontakt, und über jedes einzelne könnte ich eine unerfreuliche Geschichte erzählen. Was ich an Wartezeiten und Durcheinander bei den Kfz-Zulassungsstellen erlebe! Nicht umsonst heißen die in meiner Branche "Vorhof der Hölle".
Lympouridis: Ich komme aus Griechenland und habe auch so meine Erfahrungen gemacht, seit ich 2016 nach Berlin gezogen bin. Höflich ausgedrückt, ist die Verwaltung hier dysfunktional. Nur ein Beispiel: meine Einbürgerung. In anderen Bundesländern dauert das wenige Monate; in Berlin habe ich mich fast zwei Jahre mit den Behörden rumgeärgert, bis es endlich so weit war. Mein einziger Trost ist, dass mir der Bescheid zehn Tage vor der Bundestagswahl zugestellt wurde, gerade noch rechtzeitig also, damit ich wählen gehen konnte.
Ralph Knispel
61, arbeitet seit vielen Jahren in der Abteilung Kapitalverbrechen und leitet die Vereinigung Berliner Staatsanwälte.
Knispel: Auch ich erlebe als Oberstaatsanwalt in Berlins Justiz unhaltbare Zustände. Unsere Software zum Beispiel funktioniert nicht durchgängig. Bei der Staatsanwaltschaft und teils bei den Gerichten werden an jedem zweiten Mittwoch von 17 Uhr bis zum nächsten Morgen alle Rechner heruntergefahren; selbst beim Prozess zum Tiergartenmord, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte, war das so. So was wäre in anderen Bundesländern undenkbar! Hauptverhandlungen finden oft zu spät oder gar nicht statt, weil Wachtmeister fehlen. Die Hauptstadt hat die höchste Kriminalitätsquote und die niedrigste Aufklärungsquote. All das besorgt die Bürger und hat das Vertrauen in den Rechtsstaat massiv erschüttert.
Müller: Jetzt mal stopp! Klar, die Fälle, die Sie schildern, gibt es. Davon höre ich selbst immer wieder, da will ich auch gar nicht gegenhalten. Aber man muss das doch einordnen. Ganz Deutschland hinkt hinterher bei der Digitalisierung. Wir haben fast vier Millionen Einwohner und zwölf Bezirke, jeder so groß wie eine deutsche Großstadt und jeder mit eigener Entscheidungskompetenz. Bei uns gibt es beide Extreme: die langsame, manchmal unfreundliche, aber eben auch die äußerst serviceorientierte, leistungsfähige Verwaltung.
König: Also, das erlebe ich anders. 2019 gab es auf einer Straße, die zu einem unserer Autohäuser in Köpenick führte, einen Wasserschaden. Das war freitagabends, da hätte man auf dem Amt keinen erreicht, also haben wir das Leck selbst provisorisch repariert. Zum Dank dafür wurden uns von den städtischen Wasserwerken 180.000 Euro vom Konto abgebucht - als hätten wir das Wasser verbraucht! Bis heute wurde uns erst die Hälfte erstattet. Und seit mehr als zwei Jahren versuche ich, den Zuständigen zu finden - bislang ohne Erfolg.
Müller: Das ist natürlich schrecklich, aber zu so einem Einzelfall kann ich wenig sagen. Für so was gibt es eben kein Verfahren.
König: Sorry, aber wie lange soll es denn noch dauern, bis ich mein wiederkriege?
Müller: Ich verstehe Sie ja, Sie müssen aber Ihrerseits auch akzeptieren, dass eine Verwaltung Ihre Ansprüche erst ganz genau prüfen muss. Die kann Ihnen nicht einfach 90.000 Euro Steuergeld überweisen.