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Kritik an Putins Militärparade: Gegen den Kult des Soldatentums

Am 1. Mai, auf den in Russland diesmal zehn arbeitsfreie Tage folgten, brachte die Petersburger Elektropopgruppe Shortparis ihr neues Musikvideo „Moskau spricht" (Goworit Moskwa) heraus, das dem Weltkriegssiegesfest am 9. Mai gewidmet ist. Der treibende Trommelpuls, ein gewalttrunkener Text, vor allem aber die elaborierte Marsch- und Kampfsportchoreographie sind ein starker Kommentar zur immer pompöser gefeierten Militärparade auf dem Roten Platz, für deren Proben im Vorfeld wiederholt Teile der Hauptstadt für den Autoverkehr gesperrt wurden, aber auch den Kult des Soldatentums, der tief in der Gesellschaft verwurzelt ist.

Schon die im Refrain oft wiederholte Titelformel vergegenwärtigt die Ankündigung, mit der das sowjetische Staatsradio einst die Frontnachrichten - und auch die Siegesmeldung - einleitete, intoniert von dem legendären Sprecher Juri Lewitan, dessen sonore Stimme bis heute viele elektrisiert. Zudem erinnern die herb tremolierenden Stimmen von Leadsänger Nikolai Komjagin und seinem Ensemble in ihrem Timbre an klassische sowjetische Kriegslieder. Doch Shortparis singt von billig rekrutierten jungen Männern, ihren Träumen und wie die Heimat sie verrät.

Erinnert an die Perspektivlosigkeit der Jugend

Ursprünglich war ein Liedtext auf Französisch geplant mit Zitaten aus der Hymne der französischen Fremdenlegion „Le Boudin" (Blutwurst) und der dem französischen Surrealismus entnommenen Botschaft, wonach das Unterbewusstsein aufgepeitscht und unterdrückte Arbeiter emotional derart aufgeheizt werden sollten, dass sie zu den Waffen greifen und jedes Regime stürzen würden. Der Druck der Wirklichkeit habe das Stück jedoch russifiziert, sagt Komjagin. Wenn er in gehetzten Reimen von „Jungs" singt, die die Hälfte kosten und an ihrem Alkoholrausch nur zur Hälfte schuld sind, so erinnert das an die Perspektivlosigkeit der russischen Jugend, vor allem in der Provinz, wo der Dienst in der Armee oder in der Polizei oft die einzigen sicheren Verdienstmöglichkeiten darstellen. Und während strammstehende junge Männer Trommelschläge simulieren, animiert Komjagin eine zusammengesunkene Gruppe zu einem martialischen Kampftanz.

Elektronische Beats, verfremdende Störgeräusche und die düstere Fabrikhalle, wo Shortparis exerzieren lässt, verstärken das Wahnhafte der Szene. Während ein junger Tenor die Schönheit des gemeinsamen Ziels besingt, verfallen die anderen in eine Art rituelles Ballett, das in eine Fackelprozession mit einem toten Helden mündet - ein Bild der gepriesenen Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern. Aber wofür? Mutter Heimat, von Komjagin gellend aufgerufen, das zu sagen, schweigt und bleibt vor ihren Soldaten schuldig, wie diese skandieren, so dass sie sich die bunten Orden, die sie tanzend einander an die Brust geheftet hatten, wütend wieder abreißen. Ein Schlüsselbild, bei der Soldaten ihrem jeweiligen Nebenmann den Revolver an die Schläfe halten, veranschaulicht die gleichmäßige Verteilung von Bedrohung als stabilisierendes Prinzip. Die Angst vor der Waffe werde zum Glauben und zum Maß der Liebe, rezitiert das Ensemble.

Doch nur kurz unterbricht ein Anflug von Liebe die Abfolge von Soldatendrill und Rebellion. Als der dekorierte Kommandeur die Traumverse wiederholt, hält er auf einem mit roten Pionierhalsbändchen wie zum Begräbnis geschmückten Thron einen Kameraden auf dem Schoß wie eine trauernde Pietà. Doch die jungen Männer schütteln die Sentimentalität gleich wieder ab und kapern Straßenbaufahrzeuge, mit der sie ihre eigene anarchische Parade abhalten. Immer durchdringender hallen ihre Rufe „Sprich, Ma", auch das rhythmisch eingeblendete Massenfoto vor dem Moskauer Kreml scheint zu fragen, wozu über Generationen Russen gegen Russen Krieg führten. Statt einer Antwort tritt am Ende der Kommandeur vor die Truppe und liquidiert seine unlenkbaren Schützlinge lieber eigenhändig.

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