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Junge Musiker aus Belarus: Wenn der Spielplatz zum Friedhof wird

Orte wie diesen gibt es viele in Belarus. Hinterhöfe, in denen sich Studenten, Pensionäre, Nachbarn und Künstler versammeln, um dezentral zu demonstrieren und der Staatsmacht durch Unübersichtlichkeit zu entweichen. Hinterhöfe sind Orte der Begegnungen aller gesellschaftlichen Gruppen geworden. Die belarussischen Machthaber müssen sich darauf einstellen, dass in jedem Hinterhof ein Sturm losbrechen kann.

Der Hof, zumeist von brutalistischen Hochhäusern aus sowjetischer Zeit umgeben, ist ein wichtiger Raum für den gesellschaftlichen Austausch. Bis heute finden sich dort kleine Sport-, Spiel- oder Grillplätze. Körperkultur, Kindererziehung und Gemeinschaft fanden in der Sowjetunion in derart öffentlichem und geordnetem Rahmen statt. Außerdem suchten die Bewohner des autoritären Staates das Gespräch von Angesicht zu Angesicht. In Belarus wachsen seit hundertzwanzig Tagen zwischenmenschliche Beziehungen vor allem in solchen Nachbarschaftshöfen. Aber ein Hof steht symbolisch für die Tragik der belarussischen Proteste.

Seine Geschichte begann am 6. August 2020, als die DJs Wladislaw Sokolowski und Kirill Galanow unmittelbar vor der Präsidentenwahl bei einem Volksfest in Minsk das legendäre Perestrojka-Lied „Peremen" (Wandel) des sowjetischen Rockmusikers Viktor Zoi gespielt und für diese subversive Aktion jeweils zehn Tage Arrest bekommen hatten. „Wandel fordern unsere Herzen, Wandel fordern unsere Augen!", heißt es darin. Für die Anwohner des zuvor namenlosen Hofes war das ein Grund, ihn zum „Platz des Wandels" zu taufen. Sie hängten eine weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern auf und schmückten den Zaun mit Hunderten weiß-rot-weißen Bändchen.

Prellungen und Schürfwunden

Doch Mitte November kamen Maskierte in den Hof und entfernten die Protestbändchen. Roman Bondarenko, ein Künstler, der auf dem Platz Kindern Zeichenunterricht gab, versuchte, sie daran zu hindern. Zeugen berichten, Bondarenko sei zu Boden gestoßen worden. Ins Krankenhaus kam er nach Auskunft von Medizinern eineinhalb Stunden später mit einem Hirnödem, Schädel-Hirn-Trauma, Prellungen und Schürfwunden.

„Ich habe euch einen Spielplatz gegeben, aber ihr habt ihn in einen Friedhof verwandelt", erklärte der Präsident Lukaschenka in einer Fernsehansprache an die Demonstranten, nachdem Bondarenko von den Sicherheitskräften verprügelt worden war. Kurz darauf starb er. Aus dem „Platz des Wandels" wurde ein „Platz der Trauer". Demonstranten kamen und gedachten des verstorbenen Künstlers. Doch das Regime wollte nicht, dass der Hof zu einer Märtyrer-Stätte wird. Omon-Sicherheitskräfte räumten ihn.

Es folgten Solidarisierungsaktionen anderer belarussischer Künstler, Musiker schrieben Lieder und drehten Videos über Bondarenko und den Platz des Wandels. Ein Beispiel ist die Post-Punk-Band Molchat Doma („Zu Hause Schweigen"). Mit Synthesizer, leichtem Schlagzeug und wie aus der Ferne kommendem Gesang mischt die Gruppe den monotonen Sound der englischen Kultband New Order mit dem des Stars der Achtziger Viktor Zoi.

In ihrem neuesten Musikvideo „Swjosdy" (Sterne) treten die Musiker als Arbeiter eines kafkaesken „Zentrums zur Bekämpfung von Straßenkunst" auf, die mit Farbeimern losziehen, um an Hausmauern Graffiti zu übermalen. Es ist ein Kommentar zu den Bildnissen prominenter Opfer von Lukaschenkas Polizeiapparat, mit denen Demonstranten Minsker Wände schmückten, und die oft schon am nächsten Tag überstrichen wurden. Man sieht die Bandmitglieder, wie sie mit apathischem Blick in Arbeitsoveralls losziehen, um Malereien zuzukleistern. Doch der gleichsam von ferne hallende Zoi-Gesang und ein Sternengemälde wecken die Arbeiter auf, sie werden selbst zu Aktivisten des Wandels, die Hauswände und ihre Uniformen farbig neu gestalten.

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