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Nina Baginskaja: "Wir sind friedlich und dickköpfig"

Ich gehe mit dem Gedanken schlafen, dass die Jugend mich zu den Demonstrationen rufen wird: Ich bin immer bereit. Als ich jung war, hörte ich von Nachbarn und von meinen Eltern, dass es schon unter Stalin Repressionen gab. Ich wurde damals darauf vorbereitet, dass die Kommunisten sich gegen das eigene Volk wenden würden. Sacharow, Wasil Bykow und andere Intellektuelle lehrten uns, nicht mehr mit der Lüge zu leben. Ich las bei Spartakus, wie dieser sein Volk aus der Sklaverei befreite. Das hat mich geprägt.

Nina Baginskaja

73, ist in Minsk geboren. Seit 1988 nimmt die inzwischen pensionierte Geologin an Protesten teil, Dutzende Male wurde sie deshalb inhaftiert. Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August 2020 unterstützt sie die dortige Demokratiebewegung - und wurde durch mutige Auftritte zu einer ihrer wichtigsten Symbolfiguren.

Schon 1988 sah ich unsere weiß-roten Flaggen gegen den Kommunismus wehen. Ich war 42 Jahre alt, als ich mich den Protestbewegungen anschloss. Ich wollte nicht, dass meine Kinder für die Sowjetunion ihren Kopf hinhalten müssen - weder bei der Niederschlagung eines weiteren Prager Frühlings noch bei einem Afghanistan-Einsatz. Doch das, was wir in den Achtzigerjahren erreichen wollten, ist nie in Erfüllung gegangen. Wir waren zu wenige. Die parlamentarische Republik ist ein Traum geblieben. Und Lukaschenko kam an die Macht.

Gegen seine frechen Handlungen und seine Annäherung an Russland konnten wir nichts unternehmen. Alle fünf Jahre wählte sich dieser Mann selbst. In dieser Zeit konnten wir nicht so viele Menschen mobilisieren. Doch inzwischen ist eine Jugend herangewachsen, die sehr gut ausgebildet ist und die die Technik versteht. Diese Jugend kann die Idee der Freiheit zu vielen Menschen tragen.

Die Regierung will uns zum Schweigen bringen und uns mit Gasen ersticken, mit Wasserwerfern verdrängen. Ich habe das alles gesehen. Doch in unseren Venen strömt das Blut der Partisanen, die im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Großmächte bekämpften. Wir sind friedlich und dickköpfig. Ich habe keine Angst.

Wovor soll ich Angst haben? Egal, wie sehr Russland Lukaschenko unterstützt: Gegen Millionen Belarussen kommt keiner an. Ich spüre, dass ich auf der richtigen Seite bin und dass wir über diese bürokratischen Handlanger siegen werden. Hinter mir steht die Wahrheit. Ich sehe ohne einen Präsidenten. Ich sehe eine parlamentarische Republik. Die Werbung auf den Straßen wird in unserer Sprache zu lesen sein. Minsk soll Mensk heißen. Die Straßen werden nicht mehr die Namen sowjetischer Politiker tragen, sondern unsere eigenen. Die Flaggen und Symbole der Proteste werden zu staatlichen Insignien werden. Das Alte gehört ins Museum. Wir müssen unsere Kultur wiederbeleben.

Nach der Revolution werden neue Arbeitsplätze entstehen, die Jugend wird lernen, Erfahrungen sammeln, um die ganze Erdkugel reisen. Unser Leben nach Lukaschenko wird normal werden. Wir werden in jeder Hinsicht reicher sein.

Und hoffentlich werde ich wieder eine Rente erhalten. Mit dem Geld kümmere ich mich dann um meinen Garten, um meine Apfelbäume, Tomaten, Kohlköpfe. Und ich träume davon, meine Stickereien, die ich schon vor den Protesten begonnen habe, irgendwann fertig zu bekommen.

Nina Baginskaja, 73, ist in Minsk geboren. Seit 1988 nimmt die inzwischen pensionierte Geologin an Protesten teil, Dutzende Male wurde sie deshalb inhaftiert. Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August 2020 unterstützt sie die dortige Demokratiebewegung - und wurde durch mutige Auftritte zu einer ihrer wichtigsten Symbolfiguren

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