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Maria Kolesnikowa: "Die Angst vor dem Staat begleitet schon lange unser Leben"

Unser Autor sprach am Donnerstag, den 27. August am Telefon mit Maria Kolesnikowa, am selben Tag wurden auch die Porträtfotos für die ZEITmagazin-Serie "Ich habe einen Traum" gemacht. Die belarussische Oppositionsführerin gab das dabei entstandene Protokoll am Mittwoch, den 2. September zur Veröffentlichung frei. Am heutigen Montag wurde sie nach Angaben ihrer Unterstützer von Unbekannten verschleppt.

Maria Kolesnikowa

38, ist in Minsk geboren und Musikerin von Beruf. Vor der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August trat sie als eine der führenden Köpfe der Opposition gegen Alexander Lukaschenko in Erscheinung. Seit der nach internationaler Auffassung manipulierten Wahl kämpft sie für die Demokratie in ihrer Heimat. Dazu hat sie die Partei Rasam ("Miteinander") gegründet.

Seit Beginn der Proteste habe ich nachts überhaupt nicht geträumt. Dazu schlafe ich zu fest. Und ich wünschte mir, dass alle Belarussen genauso tief und fest schlafen können wie ich. Doch das können sie nicht. Sie werden auf offener Straße verhaftet, entführt und geschlagen. Die Angst vor der Armut und vor dem Staat begleitet schon lange unser Leben. 26 Jahre lang wurden wir in einem Albtraum aus Gewalt und Repressionen gefangen gehalten.

Ich träume davon, dass die Menschen in in einem rechtsstaatlichen System aufwachen können, das sich Europa zum Vorbild nimmt. Ein Parlament und eine Regierung, die dem Volk dient - das brauchen wir. Schluss mit Gewalt, Schluss mit Willkür.

Wir Belarussen sind zurückhaltende, ruhige und entspannte Menschen. Gewalt ist für uns ein Fremdwort. Wir ziehen sogar unsere Schuhe aus, wenn wir bei Demonstrationen auf Parkbänke steigen.

Ich träume von einem Belarus, dessen Bürger und Bürgerinnen nicht mehr ins Ausland gehen müssen, um Geld zu verdienen. Von einem Belarus, in das auch Leute aus dem Ausland kommen, um hier zu arbeiten. Ich träume davon, dass Belarus ein kulturelles Zentrum Europas wird, in dem sich alle Menschen zu Hause fühlen können, inmitten von Kunst und Musik. In Deutschland, wo ich zwölf Jahre lang als Musikerin tätig war, habe ich ein Bewusstsein für meine belarussische Identität erlangt.

Dieses Selbstbewusstsein wünsche ich mir für ganz Belarus. Es ist kein Traum von Nationalismus, es ist ein Traum davon, kulturell eigenständig zu sein. Bei den Demonstrationen habe ich gesehen, wie sich unser Albtraum für viele Menschen in einen Traum verwandelt hat - und in ein neues Bewusstsein.

Heute sieht man auf den Straßen nach Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft und 26 Jahren Lukaschenko-Regierung selbstbewusste Menschen. Das ist also ein Traum, der endlich in Erfüllung zu gehen scheint. Über Lukaschenko sollen die Menschen in Belarus entscheiden. Er hätte dieses Jahr in Rente gehen können. Doch in den vergangenen 26 Jahren hat er uns in Grund und Boden regiert. Er soll sich aus der Politik verabschieden. Was wir brauchen, sind faire und freie Wahlen. Viele der neun Millionen Menschen in Belarus hätten die Fähigkeit, der nächste Präsident, die nächste Präsidentin zu werden. Aber nicht Lukaschenko.

Ich träume davon, dass er endlich aufwacht und die Rufe und Schreie von Millionen schlafloser Belarussen hört. Ich möchte, dass wir abends ohne Angst durch die Straßen spazieren können. Wenn Lukaschenkos Herrschaft vorbei ist und mein Wunsch Gestalt angenommen hat, möchte ich Urlaub machen - irgendwo in Belarus. Ich möchte die Ruhe genießen, die die Wälder, Seen und die Natur zu bieten haben. Ich möchte, dass die ganze Welt dieses neue Belarus miterleben kann.

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