1 Abo und 3 Abonnenten
Artikel

Belarusen in Deutschland: „Die Menschen wollen etwas unternehmen, können aber nicht"

Seit 15 Jahren lebt Jauhen Theodorovich in Berlin. Am Mittwoch will der Betriebswirtschaftslehrer aus Belarus sich aber auf den Weg in seine Heimatstadt Minsk machen, um Familie und Freunden in diesen bewegten Zeiten beizustehen. „Ich wollte schon lange nach Minsk. Doch dann kam Corona", erzählt der Vierzigjährige. Theodorovich, der sagt, er sei sehr „angespannt", tritt die Reise an, obwohl er sich nicht sicher ist, ob er an der polnisch-belarusischen Grenze umkehren muss. „Es kann sein, dass Lukaschenka den Ausnahmezustand verhängt", sagt er über den Dauerherrscher, der nach der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten gegen mutmaßliche Wahlfälschungen in schwerer Bedrängnis ist.

Selbst wenn Theodorovich es bis nach Minsk schafft, ist es wahrscheinlich, dass er dort vom Internet abgeschnitten ist. Das wäre ein herber Verlust für die belarusischen Emigranten in Deutschland, denn er ist Administrator der Facebook-Gruppe „Belarusen in Deutschland", die 1400 Mitglieder umfasst. Dort werden auf Belarusisch, Russisch und manchmal auch auf Deutsch Informationen und Protestaufrufe geteilt. Theodorovich hat etwa zu einer Kundgebung in Berlin aufgerufen, die am Sonntagnachmittag stattgefunden hat; er spricht von 270 Teilnehmern, die gekommen sind.

Ausgewandert für ein besseres Leben

„Die Menschen wollen etwas unternehmen, können aber nicht", sagt Theodorovich über den Gemütszustand der Belarusen in Deutschland. Wenn Lukaschenka das Internet lahmlege, seien sie schon froh, über die Vorgänge im Heimatland informiert zu werden. „Die meisten Informationen haben wir aus Telegram„ sagt Theodorovich über den Messengerdienst.

Belarus ist ein Auswanderungsland. In den vergangenen Jahren ist die Community in Deutschland stetig angewachsen. „Die jungen Leute sehen keine Zukunft, wenn sie nicht bei einer staatlichen Firma angestellt sind", sagt Betriebswirt Theodorovich. Sein Heimatland belege Platz eins in den Visaanträgen für die Europäische Union. Die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, darunter laut Theodorovich viele IT-Fachleute, nehmen dabei auch ein Kauf, in Deutschland in einem Beruf weit unter ihrer Qualifikation zu arbeiten. Für ein besseres Leben ist vor zwanzig Jahren auch der 48 Jahre alte Dmitry Rusin aus Belarus nach Deutschland ausgewandert. Er ist studierter Jurist, arbeitet mittlerweile aber als Lastwagenfahrer in einer Spedition in Niedersachsen.

Der „Kolchose-Direktor" muss weg!

Die Ausschreitungen in Belarus beunruhigen Rusin, denn er hat in seinem Heimatland Freunde und Verwandte zurückgelassen: „Ich verfolge die Situation und mache mir Sorgen um die Menschen. Es ist eine unzugängliche, ungebildete Person an der Macht, die die Macht durch Täuschung übernommen hat und sie mit allen Mitteln hält." Für Rusin ist klar: Diese Regierung ist kriminell. Lukaschenka muss weg. Seine Freunde und Verwandten versucht der Lastwagenfahrer so gut wie möglich zu unterstützen.

Die Belarusen in Deutschland haben sich auch an der Urne mit deutlicher Mehrheit dafür ausgesprochen, dass Alexandr Lukaschenka nicht mehr länger Präsident sein soll. In der belarusischen Botschaft in Berlin entfielen 786 Stimmen auf Herausforderin Swetlana Tichanowskaja, und nur 45 auf Amtsinhaber Lukaschenka. Betriebswirt Theodorovich wie auch Lastwagenfahrer Rusin vergleichen ihn mit einem „Kolchose-Direktor", der nicht mehr verstehe, dass die Welt im Jahr 2020 eine andere sei als 1994, als der studierte Agrarwissenschaftler das erste Mal Präsident wurde. Theodorovich bedankt sich ausdrücklich bei der Berliner Botschaft, dass sie die Stimmen „gerecht gezählt" habe. Wie Lukaschenka nun unter starkem politischen Druck weiter vorgehe, wage er nicht vorauszusagen.

„Nicht auf Hilfe von außen hoffen"

Dafür dass es nach 26 Jahren in Belarus erstmals eine ernsthafte Wechselstimmung gibt, haben Emigranten vor allem eine Erklärung: Präsident Lukaschenka habe die Belarusen mit seinem Corona-Management gegen sich aufgebracht. „Indem er Menschen gesagt hat, dass sie an der Erkrankung selbst schuld sind, hat er sie beleidigt", sagt Betriebswirt Theodorovich. Die Belarusin Maryna Rakhlei, die in Berlin für den German Marshall Fund die Zivilgesellschaft in Belarus fördert, erinnert auch daran, dass während des Lockdowns zahlreiche Arbeitskräfte aus Polen, der Ukraine und Russland nach Belarus zurückkehren mussten, in der Heimat aber keine Anstellung fanden. Das steigerte die Unzufriedenheit noch. Klar ist für Rakhlei: Nicht die Anziehungskraft der oppositionellen Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja, sondern der Wunsch nach Veränderung hat die Menschen im ganzen Land auf die Straßen getrieben.

Auch unter den Belarusen in Deutschland gehen die Vorstellungen, was nach Lukaschenka kommen soll, weit auseinander. Theodorovich sagt: „Es braucht harte Sanktionen gegen Lukaschenka und seine Clique." Rakhlei ist skeptischer. „Sanktionen sind nicht mein Lieblingsinstrument", sagt sie. Sie liefen oft ins Leere. Viel wichtiger sei es, Türen in Europa zu öffnen. „Wir brauchen mehr Austausch", sagt Rakhlei.

Lastwagenfahrer Rusin ist gegen Interventionen aus dem Ausland. „Man sollte nicht auf Hilfe von außen hoffen. Niemand wird uns jemals etwas umsonst geben. Und wenn doch jemand hofft, dass die Hinwendung zum Westen sofort zu materiellem Wohlstand führt und die Menschen politische und demokratische Freiheiten erhalten, dann ist das ein Märchen." Für ihn ist die Maijdan-Revolution in der Ukraine ein warnendes Beispiel. „Fünf Jahre sind vergangen, aber nichts Gutes ist in der Ukraine zu sehen." Was er Belarus wünsche, sei Geduld - und wenn möglich eine „echte Demokratie, wie in Deutschland".

Die Belarusen erwarten aber auch, dass ihr Land in Deutschland stärker wahrgenommen wird. „Wir waren die ganzen Jahre so unsichtbar", sagt Maryna Rakhlei. Mit ihrem Engagement wollen die Emigranten nicht nur gegen Lukaschenka, sondern auch gegen das Bild von Belarus als gefühltes Anhängsel Russlands kämpfen.

Zum Original