Einst ließen sich Seemänner und Verbrecher Tattoos stechen, um ihre Geschichte zu erzählen oder ihre Stellung in der Gesellschaft zu zeigen. Tätowierte waren Gebrandmarkte, Aussätzige, Kriminelle. Jedes ihrer Motive hatte eine feste Bedeutung und seinen Ort am Körper - und war manchmal auch ein Grund, den Träger zu meiden.
Heute ist es anders: Jeder vierte Deutsche hat sich seinen Körper mit einer Tätowierung verzieren lassen. Und täglich werden es mehr. Sternzeichen, Lebensweisheiten, Partnerporträts wurden irgendwann durch Tribe-Tattoos verdrängt - und auch das ist jetzt Geschichte.
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz schreibt in seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten", dass der Mensch nach Einzigartigkeit strebt, und das sei nicht nur ein Wunsch, sondern auch gesellschaftliche Erwartung. „Sei du selbst" ist für Reckwitz im Kapitalismus und im Mainstream angekommen - und das Tattoo gleich mit.
Doch unter Tätowierern und Tätowierten regt sich Widerstand gegen die mit Bedeutung aufgeladenen bunten Bildchen. So auch bei Alex Berger. In einem Keller in Köln stechen der 28 Jahre alte ehemalige Designstudent und sein Team Motive wie Milchtüten, Topfpflanzen oder Einkaufswagen unter die Haut ihrer Kunden.
Das Kellerstudio erinnert mit kahlen Wänden, Vintage-Möbeln und orientalischen Teppichen an eine Mischung aus Box-Studio und Shisha-Bar. Im Hinterzimmer hängt als Deko ein Boxsack, mit dem sich der Stil des Tätowierers beschreiben lässt: „einfach draufhauen". Denn im Gegensatz zu den vergangenen beiden Jahrzehnten, in denen sich die Kunden in der Regel möglichst tiefgründige oder bunte Motive stechen ließen, geht es heute nicht mehr um Sternzeichen, Tribals oder Zitate, sondern um klare Linien und provokante Motive. Alltägliche Objekte, betont krakelig und schief gestochen, sind inzwischen unter Jüngeren weit verbreitet. Diese Art des Tätowierens nennt sich „Ignorant Style".
Selbst das berühmte Kinderzeichen-Spiel „Das ist das Haus vom Nikolaus" soll auf der Haut zu einem Ausdruck des neuen Stils werden. Denn beim „Ignorant Style" ist es nicht wichtig, wie eine Linie gestochen wurde. Hauptsache: Sie wurde gestochen. Das macht eine Unterscheidung zwischen Profis und Anfängern schwierig, meint Alex Berger.
Auch Prominente haben den Ignoranten-Stil für sich entdeckt. So ließ sich Scarlett Johansson vor einigen Jahren ein schiefes Hufeisen mit dem Schriftzug „Lucky You" auf die Rippen stechen. In dieser Zeit war der Stil noch kaum verbreitet, unter Tätowierern gar verpönt.
Auch Alex Berger sticht so zu. Aber er hat sich stilistisch noch weiterentwickelt, zum „Fresh Ignorant Style". Dabei sind die Linien im Gegensatz zu der ursprünglichen Form klarer und deutlicher gesetzt. Die Bedeutung bleibt aber ungefähr die gleiche: „Man will mit den Motiven die Leute einfach vor den Kopf stoßen, aber mit einer guten und klaren Technik."
Für ihn ist dieser Trend der Ausdruck eines neuen Lebensgefühls: „Die Menschen leben immer nachhaltiger und minimalistischer. Farben und Schnörkel verfälschen Motive und werten sie oftmals auch auf. Das ist nicht real." Seine Motive dagegen sind wirklich - wirklich anders.