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Literarische Tattoos: Rilke unter der Haut

Tattoos und Literatur - das eine wird, sofern man zu Pauschalisierungen neigt, gerne mit Kriminellen assoziiert, das andere mit Intellektuellen oder zumindest solchen, die vorgeben, Intellektuelle zu sein. Doch seit der Mensch durch Zeichen kommuniziert, spielen Tätowierungen eine besondere Rolle in der Gesellschaft. Sei es zu rituellen, sozialen, politischen oder ästhetischen Zwecken: Tattoos sind ein Kainsmal der Menschheit, sowohl Schutzzeichen als auch Schandfleck. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Tätowierungen und Literatur haben viel gemein. Beide Ausdrucksformen sind aus Kulturen in aller Welt bekannt, beide wurden auf Haut festgehalten, beide wollen Geschichten erzählen. Die gestochenen Augenblicke, die vom Tattoo-Träger präsentiert werden, sind Narrative wie die Literatur. Aber während Tätowierungen weiter auf Haut gestochen werden, sind die Schriftsteller längst vom Pergament aufs Papier gewechselt.

Wie ein literarisches Werk, so sind auch Tattoos, sei es in Bild oder Schrift, vieldeutig. Klare Aussagen über die Bedeutung für den Träger sind meist nicht zu bekommen. Es können - wie bei einer Interpretation - nur mehr oder weniger treffende Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden. So hat sich die amerikanische Sängerin Lady Gaga nicht etwa ein Tribal oder eine Sonne tätowieren lassen, sondern einen übersetzten Auszug aus Rainer Maria Rilkes „Briefen an einen jungen Dichter" über den Grund, warum man schreibt: „Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?"

Eine Aktualisierung der Literatur

Durch die Tätowierung öffnet sich für die Literatur eine neue Zwischenwelt. Wenn sie gestochen wird, bewohnt sie gleichzeitig die Innenwelt des Trägers und die Außenwelt des Beobachters. Durch den Prozess des Stechens entsteht eine vierfache Interaktion zwischen Autor und Leser, Leser und Tätowierer, Tätowierer und Autor, Kunde und Tätowierer. Wie die Zeichen zu lesen sind, muss also immer wieder neu ausgehandelt werden. In diesem Prozess konstruiert sich die Bedeutung erst durch die Wahrnehmung eines anderen.

Tattoos wollen von vielen Blicken wahrgenommen werden. Das Buch dagegen will in Kontakt mit dem Leser treten, es offenbart sich nicht in der Gesellschaft, sondern in stiller Zweisamkeit. Literatur und Text auf der Haut enthalten also, wie bei Lady Gaga, eine performative Komponente. Im Augenblick des Auftritts auf der Bühne oder auf dem roten Teppich konstituiert sich zwischen Betrachter und Tattoo ein Sinnfeld, das mit Inhalt und Deutung zur Person Lady Gaga gefüllt wird. Das Tattoo erhält seinen ästhetischen Wert aus der Situation heraus. Denn das Ziel des Tätowierten ist es, den Blick des Betrachters zu binden und damit Aufmerksamkeit zu erregen.

Indem sich Menschen Textstellen auf die Haut stechen lassen, bewahren sie die Literatur auch vor dem Vergessen. Denn die Rezeption, die Bestandteil des literarischen Akts ist, vergegenwärtigt und aktualisiert die Literatur. Womöglich beschert diese Aktualität sogar Rilke oder Brecht neue Leser. Und vielleicht kann man sich ja bald auch auf der Frankfurter Buchmesse tätowieren lassen. Um es mit Brad Pitts linkem Arm zu sagen: „Absurdités de l'existence" - das Leben ist seit Jean-Paul Sartre absurd. Und Selbstverwirklichung geschieht vielleicht in einem Tattoo mit einem Satz von Goethe. Warum auch nicht?

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