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Kolumbien: Vom Farc-Entführungsopfer zum Helfer für Ex-Kämpfer

Vom Farc-Entführungsopfer zum Helfer "Vielleicht muss nicht alles vergeben werden"

Diego Calderón wurde einst von der kolumbianischen Farc-Guerilla entführt, als er in den Bergen Vögel beobachtete. Heute setzt sich der Biologe für die Reintegration von Ex-Kämpfern ein - indem er mit ihnen in den Urwald geht.


Aus Bogotá berichtet Antonia Schaefer

Atlapetes fuscoolivaceus war endlich aufgetaucht. Ein kleines gelbes Knäuel mitten im Grün. In der Gruppe brach geräuschloser Jubel aus. Den kleinen Vogel, der zu Deutsch Rußkopf-Buschammer heißt, wollte niemand verschrecken. Bauern umarmten Guerilleros, die keine mehr sind. Ein halbes Leben verbrachten sie beinahe als Nachbarn und doch in anderen Welten.

So schildert Diego Calderón wenige Wochen später am Telefon die Begegnung im Mai 2021 bei Planadas, Tolima, in Kolumbien. Ein Ort ganz nahe an der Gegend, wo vor 57 Jahren die Farc, Kolumbiens historisch größte Guerillagruppe, gegründet wurde. "So sieht Versöhnung aus", sagt Calderón.

Diego Calderón ist Biologe und Vogelkundler. Und er ist davon überzeugt, dass Vogelbeobachtung einige der Wunden heilen kann, die der bewaffnete Konflikt zwischen Regierung und Guerillas über Jahrzehnte in der kolumbianischen Bevölkerung hinterlassen hat.

Calderón ist einer, der weiß, wie man vergibt: 2004 wurde der heute 41-Jährige von der Guerilla entführt - als er in den Bergen nach Vögeln suchte. Heute, 17 Jahre später, setzt er sich für die Reintegration von Ex-Farc-Kämpfern ein.

Als die kolumbianische Regierung und die Farc 2016 nach mehr als 50 Jahren einen Friedensvertrag unterzeichneten, wollte Calderón unbedingt helfen, denn Frieden, so sagt er, sei wichtiger als alles andere. "Durch meine Entführung habe ich die Möglichkeit, ein Vorbild zu sein: Wenn ich der Gruppe helfe, die mich entführt hat, wird es vielleicht auch für andere leichter, Ex-Guerilleros als Menschen zu sehen."

Dazu nimmt er sie alle mit in seine Vogelwelt: Guerilleros, Bauern, Indigene. Dafür fährt er in eines der 24 Reintegrationszentren, ETCR genannt, die in Kolumbien mit dem Friedensprozess aufgebaut wurden. Dort spricht er über die Erkennungsmerkmale von Vögeln, ihren Lebensraum und lehrt den Umgang mit Fernglas und Kamera. Der wichtigste Teil sind aber die Entdeckungstouren: Anwohner und Ex-Guerilleros machen sich dabei gemeinsam auf die Suche nach Vögeln in der Umgebung.

"Egal ob Adler oder Spatz - ein Vogel passt sich an, erfindet sich neu, hält durch", sagt Calderón. "Er ist ein Nachkomme vom Dinosaurier. Der Dino, der überlebte." Eigentlich, findet Calderón, eine schöne Metapher für den Guerillero, der seine Waffen niedergelegt hat.

Seit dem Friedensabkommen vor fünf Jahren wurden mehr als 250 Ex-Kämpfer getötet, und Schätzungen zufolge schlossen sich rund 3000 Ex-Guerilleros Dissidentenorganisationen an, die sich erneut bewaffneten. Gleichzeitig haben viele Menschen in Kolumbien den Ex-Kämpfern nicht vergeben. Der Friedensprozess in Kolumbien steht auf wackeligen Beinen.

"Es herrscht immer noch Misstrauen zwischen den Bauern und den Ex-Kämpfern", sagt Mayra Ruiz Medina. Sie ist die Reintegrationsbeauftragte in Planadas. "Die Bauern und Indigenen, die hier leben, haben Schwierigkeiten, den Menschen zu vertrauen, die so lange mit Waffen hier durchmarschiert sind. Gleichzeitig haben viele Ex-Kämpfer Angst davor, mit Vorurteilen belegt zu werden."

Aceneth Bedoya pflanzt in Planadas Kaffeepflanzen, Bananen und Bohnen an. Genauso wie ihre Eltern vor ihr. 2007, als ihre Tochter drei Jahre alt gewesen sei, so erzählt sie, habe eine Guerillera ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle: Die Farc würde das Mädchen in einigen Jahren rekrutieren. Dann könne die Kleine für die gute Sache kämpfen. "Ich hatte furchtbare Angst vor ihnen", sagt Bedoya.

Doch dieses Gefühl habe abgenommen, erzählt die 45-jährige Bäuerin. Besonders seit sie im Mai mit den ehemaligen Farc-Kämpfern durch den Wald gelaufen sei und nach stundenlangem Suchen die gelbe Rußkopf-Buschammer entdeckt habe. "In diesem Moment haben wir uns alle gefreut. Es war, als wären wir uns auf einmal nicht mehr fremd."

Auch Aracelly Guevara hat diesen Moment im Mai erlebt. Aracelly, das ist ihr alter Kampfname, den ihr die Farc im Dschungel gegeben hat. Ihren richtigen Namen, so sagt sie, weiß sie nicht mehr. Vielleicht will sie sich nicht an ihn erinnern. Mehr als 20 Jahre hat sie bei der Guerilla verbracht, die sie nur die "Organisation" nennt. Sie hat ihre Tochter in der Zeit zur Welt gebracht und sie bei Verwandten in der Stadt zurückgelassen. All das erzählt sie ohne sichtbare Emotionen.

Aber wenn Aracelly über Vögel spricht, dann verhaspelt sie sich zwischendurch, so aufgeregt ist sie: "Ich kenne sie alle schon so lange von meiner Zeit im Wald. Aber jetzt weiß ich, wie sie heißen, welcher wie singt und wie ich sie am besten fotografiere." Und sie weiß, dass nicht wenige von ihnen bedroht sind. Darunter auch einige Arten der Kolibris - ihre Lieblingsvögel. Sie sind ein Thema, über das sie lieber spricht als über ihre Zeit in der Guerilla. "Wir müssen alles tun, dass diese schönen Tiere uns erhalten bleiben."

Diego Calderón ist überzeugt, dass Ex-Farc-Mitglieder dabei helfen können: "Sie kennen die Wälder Kolumbiens wie kaum jemand anders - sie haben sie schließlich lange Zeit besetzt." Mit mehr als 1900 Spezies ist Kolumbien das vogelartenreichste Land der Welt.

Calderón hofft, dass Ex-Guerilleros in Zukunft Touristen einige dieser Arten zeigen und weitergeben, wie wichtig es ist, sie zu schützen. "Die meisten der ehemaligen Kämpfer, die ich kenne, haben durch ihre Jahre im Wald eine Liebe zu unserer Natur entwickelt. Er war schließlich ihr Zuhause."

Und dorthin verschleppten Farc-Kämpfer Calderón vor 17 Jahren: Er war mit Kollegen für eine Forschungsreise in den Nordwesten des Landes unterwegs, in die Sierra de Perijá, eine Bergkette nahe der venezolanischen Grenze. Calderón erzählt, wie er, ein weiterer Kollege und ein Guide bei einer Vorexkursionauf zwei vermeintliche Bauern stießen, die misstrauisch ihre Ferngläser betrachteten.

Als sie den Berg verlassen wollten, hätten die als Bauern verkleideten Farc-Guerilleros sie aufgehalten. "Sie sagten uns, dass der Kommandant sehr verärgert darüber sei, dass wir dort gewesen seien, und dass wir warten sollten", sagt Calderón. "Zweieinhalb Tage später tauchten mindestens hundert Farc-Kämpfer in voller Montur auf und brachten uns ins Hauptcamp in der Nähe. Damit begannen drei Monate Entführung."

Die drei wurden zusammen festgehalten, teilweise auch mit anderen Entführten. Während dieser Zeit hätten die Vögel ihn gerettet - vor der Angst, vor der Langeweile. Tagsüber, so erzählt er, habe er versucht, jedes Detail jedes Vogels zu erinnern, den er gesehen habe. Nachts kritzelte er seine Erinnerungen auf das Papier der Zigarettenpackungen, die ihm die Guerilleros gaben.

Er stopfte die in Plastik eingewickelten Papierfetzen in das hohle Metallgestell seines Rucksacks, damit niemand seine Notizen zu sehen bekam. "Mein Feldtagebuch hatte mir der Kommandant direkt abgenommen. Er dachte, die lateinischen Vogelnamen darin seien Codes. Er hatte wohl Angst, dass ich ein Spion der Regierung sei und heimlich Notizen über die Guerilla machte."

Nach einigen Wochen, so erzählt Calderón, habe der Kommandant offenbar verstanden, dass er kein Spitzel gewesen sei. Die Farc habe dann von seiner Familie ein Lösegeld verlangt, das diese nicht habe zahlen können. Schließlich sei der Kommandant mit seiner Forderung runtergegangen. Über die genaue Summe will Calderón nicht sprechen, sagt dazu nur: "Meine Eltern mussten sich bei der ganzen Familie Geld leihen."

Als er nach drei Monaten kurz nach den anderen freikam, schaffte er es, seine Notizen aus der Gefangenschaft mitzunehmen. Darunter auch die Zeichnung eines Rotschwanz-Glanzschwänzchens, einer Art, die nur in dieser Gegend vorkommt - und die Calderón dort zum ersten Mal sah. Seitdem versucht er, sich an dieses schöne Erlebnis zu erinnern, wenn er an die Entführung denkt.

"Vielleicht muss nicht alles vergeben werden", sagt Calderón heute. "Wir sollten vielmehr versuchen, miteinander zu leben, und den anderen als das wahrnehmen, was er ist: ein Mensch mit Fehlern."

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
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