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Virchowklinikum: Intensivstation der Zukunft in der Charité

Trübes Licht, kahle Wände und laute Geräte. Eine Intensivstation ist wahrlich kein Ort zum Wohlfühlen. Damit wollte sich Claudia Spies aber nicht abfinden. Drei Jahre lang diskutierte die Leiterin des Centrums für Anästhesiologie, OP-Management und Intensivmedizin der Berliner Charité immer wieder darüber. Dabei ging es vor allem um die Frage: Lässt sich der Heilungsprozess der Patienten durch Wohlgefühl beschleunigen? Zwei weitere Jahre suchte die lebhafte Professorin nach Geldgebern für ihr ungewöhnliches Forschungsprojekt. Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Seit kurzem liegen im Weddinger Virchowklinikum die Patienten auf der Intensivstation der Zukunft.

In herkömmlichen Intensivstationen ist die medizinische Überwachungstechnik unüberhörbar. Bis zu 95 Dezibel kann ihr Lärmpegel betragen. Ab 45 Dezibel gilt Lärm als Stressfaktor. Der Krach, das künstliche Licht, beides stört den Schlaf-Wach-Rhythmus der Patienten.

Doch ein Mensch, der nicht schläft, kann nicht gesunden. Deshalb führt man den heilsamen Schlaf durch Schlafmittel herbei. Allerdings steigern die Medikamente die Gefahr des Deliriums. Ein stressiger Teufelskreis für die Patienten. „Wir wollten endlich eine Intensivstation, die die Angst und Hilflosigkeit der Patienten mindert", sagt Spies. Eine Einrichtung, die Bedürfnisse der Patienten berücksichtigt und ihnen das Gefühl des Ausgeliefertseins erspart, schwebte ihr vor.

Das Interieur dafür entwickelte ein Team aus Medizinern, Architekten und Mediengestaltern. Über einen Zeitraum von zwei Jahren trafen sie sich regelmäßig und nahmen von Anfang an die Patientenperspektive ein. Sie legten sich selbst aufs Krankenbett, diskutierten mit diversen Fachleuten über ihre Eindrücke und Ideen. Sie befragten das Pflegepersonal nach ihren Arbeitsabläufen. Jedes Detail fand Beachtung.

Wie im Hotel

„Man hat festgestellt, dass Kinder gerne zum Zahnarzt gehen, wenn die Praxis entsprechend gestaltet ist. Also war es unser Ziel, die Intensivstation positiv in Szene zu setzen. Wir ließen uns eher von der Idee eines Hotels leiten, in dem man sich wohlfühlt", sagt Annette Finke von der Berliner Filiale des Architekturbüros Graft.

Das Ergebnis macht Eindruck: Die Wände sind nussbraun mit Holzmaserung. Der Fußboden ebenfalls dunkel, in Aubergine. Beides soll Wärme und Geborgenheit vermitteln. Die Überwachungstechnik ist hinter der Vertäfelung verschwunden. Eine doppelte Wand schluckt die Geräusche. Das Zimmer strahlt Ruhe aus.

Ein Regal teilt das Doppelzimmer, schenkt jedem Bettplatz etwas Privatsphäre. Über jedem Bett eine große Lichtdecke, die den Patienten umhüllen soll. In hellem Gelb zaubert sie jeden Morgen die Sonne an den Himmel und lässt sie abends wieder untergehen. Das unterstützt den natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus des Patienten. Außerdem taucht der Baldachin-Screen die Patienten in weiche Farben, imitiert eine schützendes Blättermeer, changiert zwischen grün und blau.

Im Bett, zwei große Augen, die Patientin Petra Voss frisch operiert, stumm. „Es gibt Studien, die belegen, dass Patienten, die in einen grünen Garten blicken, schmerzzufriedener sind", erläutert der Mediziner Alawi Lütz. Die Farbe Grün habe eine schmerzlindernde Wirkung. „Dadurch können wir Schmerzmedikamente reduzieren. Und das wiederum kann die Symptome von Delirien und Atemdepression verringern", ergänzt er.

Der Lichthimmel dient zusätzlich noch als eine Art Spielkonsole. Über einen Tabletcomputer bewegen die Patienten auf dem Screen Lichtpunkte hin und her. „Auf diese Weise können die Patienten ihre Motorik und Konzentration anregen", erklärt Jing He von den Mediendesignern Art und Com. Das ist nicht nur als Spielerei gedacht.

Erst um die Jahrtausendwende erkannte man, dass medikamentös herbeigeführte Komata schwere Schäden hervorrufen, sagt Claudia Spies. Den Patienten schwinden im Koma die Muskeln, mit dem Erwachen müssen sie das Essen erst wieder lernen und die Entwöhnung vom Atmungsgerät ist langwierig. Häufig gehören Konzentrationsschwächen zu den Langzeitfolgen.

„Als ich vor rund 14 Jahren wache und aktive Patienten gefordert habe, bin ich fast gesteinigt worden. Weil alle, ob Pfleger oder Ärzte, Angst vor der Veränderung hatten", berichtet Spies. Allerdings würden die wachen Patienten für die Intensivpflege neue Probleme aufwerfen. „Einmal hat ein Patient zu mir gesagt, dass er sich so langweile, dass er die Löcher an der Wand zählt." Das habe sie sehr nachdenklich gemacht. „Jetzt können die Patienten durch den Lichthimmel auf spielerische Weise ihre Aufmerksamkeit trainieren und nebenbei sogar noch die SMS-Grüße ihrer Angehörigen lesen", sagt Mediendesigner Jing He.

Im Vorraum zum Intensivzimmer der Zukunft geht es unruhig zu. Pflegepersonal und Ärzte eilen hin und her, tauschen sich kurz aus. Monique Schieler arbeitet seit 15 Jahren als Intensivpflegekraft und findet die Arbeit auf der neuen Station aufregend. „Wir müssen vorausschauender arbeiten, mehr planen. Die Zimmer werden anders befüllt, dadurch sind die Arbeitsprozesse ritualisierter." Sie schüttelt ihre dunklen Locken und fügt an: „Aber die Patienten haben hier mehr Ruhe und das ist gut für ihren Genesungsprozess."

Für die Reinigungskräfte bedeuten die zwei neuen Intensivzimmer keinen Mehraufwand. „Natürlich haben wir bei unseren Treffen auch die Krankenhaushygiene mit ins Boot geholt. Unsere Ideen müssen auch den Anforderungen der Sterilität standhalten", sagt Annette Finke. So musste etwa getestet werden, ob die Oberfläche der Möbelbauplatten den Hygienevorschriften standhält.

Jetzt fehlen noch die wissenschaftlichen Beweise: 18 Monate beobachten und dokumentieren Mediziner, Psychologen und Schlafforscher der Charité das einzigartige Pilotprojekt. „Wir untersuchen, inwieweit die Raumatmosphäre in den neuen Zimmern Einfluss auf den Heilungsprozess der Patienten nimmt", erläutert Alawi Lütz. Dabei geht es um die Liegezeiten, die Häufigkeit von Delirien, den Schlaf- und Schmerzmittelverbrauch und die Langzeitfolgen.

Weniger Angst und Schmerz?

Weisen die Wissenschaftler nach, dass die Wohlfühl-Faktoren direkt auf Angstgefühle und Schmerzempfinden wirken, könnten diese Erkenntnisse künftig bei der Umgestaltung und beim Neubau von Krankenhäusern eine wichtige Rolle spielen. „Für die Intensivmedizin sind die neuen Zimmer ein Meilenstein", ist Spies überzeugt.

Ist dieser Meilenstein auch finanzierbar? „Uns ist klar, dass dieses Intensivzimmer nicht teurer sein darf als ein herkömmliches Zimmer. Sonst kann es keinen Erfolg haben", sagt die Architektin Annette Finke. Doch im Moment sei es noch schwierig, ein Preisschild ans neue Intensivzimmer zu hängen. „Wir betrachten unser Engagement alle als eine Investition in die Zukunft. An den genauen Zahlen arbeiten wir noch."

Exakte Ziffern gibt es bislang nur vom Bundeswirtschaftsministerium. Ihm war die Entwicklung des Forschungsprojekts eine Million Euro wert. Alle weiteren Ausgaben haben die privaten Partner übernommen. Die Entwicklungskosten, so argumentiert das Architekturbüro Graft, seien natürlich hoch. Das liege vor allem an der aufwendigen Detailarbeit. Doch in Serie produziert, seien die Kosten durchaus realistisch. Wer weiß, vielleicht erhält der Begriff Krankenhaus-Charme bald ganz neue Bedeutung.

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