Ansgar Hein

Chief B2B Marketeer, Köln

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Artikel

Pragmatismus 4.0 für die Industrie

Deutschland droht international den Anschluss zu verlieren. Wenn Industrie 4.0, M2M und Internet of Things hierzulande erfolgreich sein wollen, dann braucht es weniger runde Tische und mehr klare Kante.

Verliert Deutschland den Anschluss beim Thema Industrie 4.0? Gerne wird bei dieser suggestiven Fragestellung auch auf den Eurokurs der letzten sechs Monate verwiesen. Und in der Tat ist der Abschwung der Währung auch sinnbildlich für die Krise rund um Industrie 4.0 hierzulande. Laut einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom kennt nur gut ein Fünftel aller Bundesbürger den Begriff „Industrie 4.0“. Aber geht das Thema wirklich alle Bundesbürger etwas an? Brauchen wir hier einen demokratischen Prozess mit der Kanzlerin an der Spitze, die das Internet 2013 noch als Neuland ausrief? Anlässlich der CeBIT kündigte Merkel einen Zehn-Punkte-Plan der Bundesregierung zur Digitalisierung an, wie ihn die USA mit der Initiative AMP 2.0 bereits seit 2011 haben. AMP steht für „Advanced Manufacturing Partnership“ und ist trotz eines Investitionsvolumens von 1,6 Milliarden Dollar heute weitgehend unbedeutend für den Erfolg von Industrie 4.0 in den USA. Die Wirtschaft hat sich selbst geholfen und nicht nur auf Impulse aus der Politik gewartet – Pragmatismus statt Perfektionismus. Mit dem „Industrial Internet Consortium“ entstand unter Federführung der Großkonzerne AT&T, Cisco, General Electric, Intel und IBM im März 2014 eine schlagkräftige Gruppierung, die inzwischen mehr als 150 Mitglieder zählt, darunter auch zahlreiche europäische Organisationen.

Und in Deutschland? Expertenzirkel, runde Tische, Spitzentreffen und keine Ergebnisse. Dabei überbieten sich Marktforscher, Verbände und Unternehmensberatungen in ihren vor Euphorie strotzenden Prognosen: Während der Branchenverband Bitkom Deutschland bis 2025 ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 80 Milliarden Euro verheißt, legt die Unternehmensberatung Roland Berger noch ein paar Milliarden drauf und kommt auf rund 268 Milliarden Euro. Anders als im Märchen „Sterntaler“ müssen deutsche Unternehmen aber nicht bloß ihre Schürzen aufhalten und darauf warten, dass die Taler hineinfallen – sie müssen etwas tun. Jetzt und hier. Einige tun das bereits: Es sind Pragmatiker, die gut beobachten, zuhören und den Mut haben, Dinge anders zu denken und zu machen.

Raspberry Pi und BeagleBone für die Industrie
Ein Low-Cost-Entwicklerboard ist nur etwas für Hobbyisten. Diesem Vorurteil setzt der Paderborner Spezialist für industrielle Computersysteme Janz Tec AG ein emPC-System auf Basis des Raspberry Pi 2 entgegen. Der emPC-A/RPI basiert auf dem Raspberry Pi 2 Modell B. »Natürlich ist das Projekt vom Preis getrieben«, sagt Christoph Mühlenhoff, Projektmanager bei Janz Tec. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn der weltweite Erfolg von Raspberry Pi ist mehr als nur der Erfolg von Bastlern und Hobyyentwicklern. Das zeigen auch Diskussionen im Netz, die der Frage nachgehen, ob ein Produkt wie der Raspberry Pi überhaupt industrietauglich ist. Langzeitverfügbarkeit, Sicherheit und Stückzahlen sind nur drei Aspekte, die beim Einsatz für industrielle Zwecke relevant werden. Und dennoch: Das Interesse am emPC-A/RPI von Janz Tec ist hoch. Kaum ein anderes Projekt steht so sehr für den Erfolg des Internet of Things, wie das Low-Cost-Entwicklerboard mit der Himbeere im Logo. Standards? Fehlanzeige. Das Erfolgsgeheimnis liegt in Preis, Transparenz und kritischer Masse. Nicht ohne Grund haben die Entwickler des Raspberry Pi Mitte 2014 ein Industriemodul des beliebten Boards auf den Markt gebracht. Ein Ansatz, den auch Martin Steger mit beaglecore.com verfolgt. Er hatte Ende 2014 die Idee, die Kernfunktionalitäten des BeagleBone Black auf ein industrietaugliches Auflötmodul zu bringen. Nun steht das Projekt BeagleCore™ in den Startlöchern und soll ab Juni 2015 über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter gestartet und finanziert werden. „Open Source ist heute mehr als nur Software. Wir glauben, dass die weltweite Vernetzung neue Potenziale birgt“, sagt Steger und hält ein erstes Exemplar des Moduls in den Händen. „Hier entsteht ein völlig neues Marktsegment, das zwischen Embedded Hightech und Hobbyentwicklern angesiedelt ist“. Immer mehr Unternehmen profitieren von Open Source und übernehmen den Transparenzgedanken, der dahinter steht. Das gilt sowohl für die Software, als auch für die Hardware. Genau diese Entwicklung kann dabei helfen, Industrie 4.0 schneller auszurollen und damit auch erfolgreich zu machen.

BIG DATA Made in Germany
Offenheit ist weltweit ein wesentlicher Treiber neuer Entwicklungen. Mit Open Data / BIG DATA hat sich ein weiterer Bereich aufgetan, der für Unternehmen und Institutionen von wachsender Bedeutung ist. Täglich werden unfassbar viele Daten erhoben, gespeichert und nur zu einem Bruchteil ausgewertet. Auch hier bieten sich Anknüpfungspunkte für die Industrie 4.0, wie das Beispiel der vorausschauenden Wartung zeigt. Daten, die aus der Auswertung von Sensoren gewonnen werden, helfen dabei, zu erkennen, welche Bauteile oder Produktionsabschnitte erste Anzeichen von Problemen aufweisen. Das gezielte Eingreifen führt schnell zu einer Kostenersparnis, die bis in den Millionenbereich gehen kann. Dennoch setzen nur gut sechs Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland laut einer Studie von MHP im Herbst 2014 bislang auf BIG DATA. Industrie 4.0 geht jedoch Hand in Hand mit der Verarbeitung, Analyse und Verteilung von Daten. Eines der Kernprobleme hierbei: Daten über einen vertikalen Prozess austauschen. Ein Käsehersteller könnte somit direkt auf Daten an der Melkmaschine zugreifen und seine Kapazitäten und Einstellungen anpassen, noch bevor die Milch angeliefert ist. Umgekehrt erhält der Milchbauer in Echtzeit wichtige Informationen darüber, welche Mengen produziert werden müssen und in welcher Qualität. Wie aber können solche Informationen vom Milchbauern, über die Genossenschaft, die Molkerei bis hin zum verarbeitenden Hersteller einheitlich und maschinenlesbar ausgetauscht werden? Einen Ansatz hierzu liefert das deutsche Startup-Unternehmen ParStream mit seiner Datenbanktechnologie, die enorme Datenvolumen in Echtzeit verarbeiten und bereitstellen kann – bis zu 100 Mal schneller als MySQL. Die Leistungsfähigkeit der Software hat bereits internationale Investoren auf den Plan gerufen. ParStream setzt damit einen Trend fort, der durch die Entwicklungen rund um Industrie 4.0 ins Rollen gekommen ist: Es geht nicht allein um BIG DATA, sondern vor allem um Fast Data. Der Ausbau der Netzinfrastruktur wird hierbei immer wichtiger, genauso wie der Austausch zwischen Maschinen – die so genannte M2M-Kommunikation.

M2M-Apps ohne Programmieren
In der Praxis scheitern viele IoT-Ansätze unter anderem an der Software. Jens Uhlig, Mitbegründer von M2MGO, sagt deshalb: „Beim Internet of Things geht es nicht um die Geräte, sondern um die Nutzer“. Aus diesem Grund hat sein Startup einen App-Baukasten entwickelt, mit dem sich Businessanwendungen per Drag&Drop zusammenklicken lassen, ohne dass man selbst eine Zeile programmieren muss, wie beispielsweise eine App für einen Rauchmelder, der auch Luftfeuchtigkeit, Temperatur und andere den Wohnraum betreffende Parameter misst. Das Click-and-Go Prinzip macht es leicht, den Sensoren ihre Werte zu entlocken und diese grafisch oder tabellarisch aufzubereiten oder gar mit Werten aus anderen Quellen zu verbinden und ein Mash-Up zu erzeugen. Damit bietet M2M den Einstieg in die Welt des Internet of Things und bildet damit dennoch beileibe nicht den Schlussakkord in der IoT-Sinfonie.

Es geht auch ohne…
„Einfach machen“ heißt das deutsche Motto zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und auch da geht es darum, Hürden aus dem Weg zu räumen. Das Motto lässt sich nahtlos auf die aktuelle Situation rund um Internet of Things und Industrie 4.0 anwenden. Natürlich sind abgestimmte Standards sinnvoll und wünschenswert, oftmals kamen die Impulse aber auch aus der Industrie und wurden erst sukzessive zu einer Art (Pseudo-)Standard. Ein Bekannter sagte vor einigen Jahren zu mir: „Ein Unternehmer unternimmt etwas. Sonst wäre er ein Unterlasser.“ und genau dieses Unterlassen spürt man gerade in vielen Teilen der Industrie. Doch ob nun BeagleCore™, M2M oder andere Entwicklungen – es gibt schon heute interessante und bezahlbare Lösungen, um einen Einstieg in die Welt von Industrie 4.0 zu finden. Und vielleicht reden wir in einigen Jahren über diese Lösungen in Form von Standards. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Industrie.