Annkathrin Weis

Freie Journalistin, Videografin, Offenbach

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Rückholaktion für Studenten: „Plötzlich waren wir die Gefahr"

Auf die letzten Tage des Indienaufenthalts hatte sich Shayan Zakerzadeh besonders gefreut. Gemeinsam mit neun weiteren Studenten der Frankfurt University of Applied Sciences und ihrer Exkursionsleiterin Alexandra Caspari hatte er die Bildungsreise nach Nagpur verlängert. Eine Woche wollten sie im Anschluss an ihre Projekte zu entwicklungspolitischer Arbeit die Westküste des Landes kennenlernen. „Wir haben über soziale Netzwerke einiges mitbekommen aus der Heimat, aber nur ab und zu. Oft war kein Internet da. Soweit wir das wussten, hatte vor allem Europa das Problem, nicht Indien", erinnert sich der 22 Jahre alte Zakerzadeh.


Schon vor ihrer Abreise Ende Februar hatte die leitende Professorin mit ihren Studenten über die Gefahr durch Corona gesprochen - und entschieden, die Bildungsreise wegen der noch ruhigen Lage und der scheinbar geringen Ansteckungsgefahr am Zielort nicht ausfallen zu lassen. Auch Deutschland schien das Virus im Griff zu haben, es gab erst einige Dutzend Fälle.


Misstrauen den westeuropäischen Touristen gegenüber

In Indien hat die Pandemie zunächst wenige Auswirkungen auf die Gruppe. Die Geschäfte bleiben geöffnet, von Ausgangssperren oder Reisebeschränkungen wie in Europa ist nicht die Rede. Doch als sich in Deutschland die Lage verschärft, bekommen auch die Studenten das wachsende Misstrauen gegenüber westeuropäischen Touristen zu spüren. Mancherorts scheinen die Einheimischen reserviert zu sein, einige rufen im Vorübergehen „Corona, Corona".


Einen Exkurs zu einer Hilfsorganisation in einem indischen Slum sagen die Veranstalter sogar ab - zu groß sei das Risiko, dass die Deutschen das Virus in die dichtbesiedelten Viertel tragen könnten. „Wir haben dann schnell verstanden: Plötzlich waren wir die Gefahr", sagt Zakerzadeh. Obwohl die Lage weiterhin nicht bedrohlich zu sein scheint, denkt Alexandra Caspari da schon einen Schritt weiter - an den Heimflug, der wenige Tage später anstehen würde. Also ruft sie drei Tage vor Abreise bei der Fluggesellschaft an, doch bei der Lufthansa beruhigt man die Professorin, es seien keine Einschränkungen zu erwarten. Einen Tag später entdeckt sie in der Smartphone-App den Hinweis, alle Flüge der Lufthansa nach Indien seien ersatzlos gestrichen worden. Laut späteren Angaben des Unternehmens liegt das an den Einreise- und Arbeitszeitregelungen, die in Indien kurze Zeit später greifen werden.

Sofort handeln - und zahlen.

Zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass spätestens vier Tage später alle Restaurants, Geschäfte und Unterkünfte in Indien auf Anweisung der Regierung schließen müssen. Vier Tage, die der Gruppe bleiben, um das Land zu verlassen oder sich „auf einen längeren Notaufenthalt einzustellen", wie die Airline und das Auswärtige Amt empfehlen. In einem kleinen Ort in Goa leichter gesagt als getan: „Wir hätten zwar in der Unterkunft bleiben können, der Gastgeber hätte das Resort aber verlassen und die Verpflegung mitnehmen müssen, also hätten wir kein Essen gehabt", sagt Zakerzadeh. Einen Vorrat hätte die Gruppe nicht anlegen können, Supermärkte mit haltbaren Lebensmitteln sucht man in der Küstenstadt vergeblich.


Eine offizielle Reisewarnung oder Rückholaktion gibt es noch immer nicht, als Alexandra Caspari und die University of Applied Sciences entscheiden zu handeln. Nach mehreren Mails, der Registrierung beim Auswärtigen Amt und Hotline-Anrufen steht fest: Die Lufthansa wird die Gruppe nicht auf andere Flüge umbuchen. Mit dem drohenden Lockdown vor Augen wendet sich die Professorin per Mail an das International Office, das an der Hochschule für studentische Auslandsangelegenheiten zuständig ist. Nur 30 Minuten später telefoniert Caspari mit der in Frankfurt verantwortlichen Juliane Reinhardt-Max, die sofort beschließt zu handeln - und zu zahlen.


Großer Einsatz der Hochschule

Es dauert vier Stunden, bis die Anweisung aus Deutschland kommt: sofort einpacken, alle Rechnungen begleichen, Abreise. In zwei Gruppen sollen die Hochschüler nach Deutschland fliegen, Alexandra Caspari und eine Studentin bekommen sogar einen Direktflug. Am liebsten möchte die Professorin den „Luxusflug" an eine emotional etwas instabile Studentin abgeben, doch eine Umbuchung ist in dem kurzen Zeitfenster unmöglich. Die restlichen neun Studierenden fliegen nach Mumbai, übernachten auf dem Flughafenboden, suchen lange nach einem geöffneten Schnellrestaurant. 45 Stunden später kommt die Gruppe in Frankfurt an. 17.000 Euro hat die Aktion gekostet.

Was bei Shayan Zakerzadeh und seinen Kommilitonen zurückbleibt ist großes Unverständnis für das Vorgehen der Lufthansa - und endlose Dankbarkeit für die Hochschule. „Ich kann nicht sagen, was wir ohne die schnelle Hilfe des International Office gemacht hätten", sagt auch Alexandra Caspari. „Die Hochschule hat keine Sekunde gezögert, uns aus Indien rauszuholen. Aber auch die Gruppe hat toll zusammengehalten." Selbst nach ihrer Ankunft in Deutschland ist das Thema für die Professorin nicht beendet: Sie möchte die Ausgaben der Hochschule von der Lufthansa ersetzt haben. Die hat unterdessen auch aus anderen Ländern Studenten zurückgeholt, die während ihrer Auslandssemester oder -praktika festsitzen. Ob finanzielle Entschädigungen von den Fluggesellschaften zu erwarten sind, bleibt offen.

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