Annika Kremer

Freie Journalistin, Rheinberg

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Wie gefährlich sind Selbstjustiz-Aufrufe?

Tugce A. wurde am 15. November 2014 in einer McDonald's Filiale in Offenbach brutal geschlagen, wurde ohnmächtig und knallte mit ihrem Kopf auf den harten Boden. Nach 9 Tagen im Koma mussten Ärzte ihren Tod feststellen. Diese schockierende Geschichte verbreitet sich vor allem über das Internet und besonders über Facebook. Damit verbunden sind Aufrufe zur Selbstjustiz und Gewalt an den Tätern, denen bei Glück lediglich eine Bewährungsstrafe droht. Aber Achtung, das kann gefährlich sein.

Selbstjustiz-Aufrufe im Internet

Das Internet dient vielfach als Plattform zur Information und zum Meinungsaustausch. Dabei können jedoch die Emotionen oft hochkochen. Wird in den Medien über spektakuläre und besonders verwerfliche Verbrechen oder beispielsweise über Gewaltakte gegen Kinder und Jugendliche berichtet, ist dies verständlicherweise besonders der Fall. Bekommen die Menschen dann noch das Gefühl, dass Polizei und Gerichte zu wenig gegen den oder die Täter unternehmen - beispielsweise, weil ein Schläger oder Kinderschänder mit einer geringen Strafe davon kommt - fühlen sich einige Menschen berufen, in Foren oder Kommentar-Spalten zur Selbstjustiz aufzurufen. Sie fordern, die Täter zu verprügeln oder sogar zu töten.

Prominentes Beispiel ist der aktuelle Fall der 22-jährigen Lehramtsstudentin Tuğçe A. Diese bewies ihre Zivilcourage, indem sie versuchte, einem von zwei Schlägern bedrängten Mädchen zur Hilfe zu eilen. In der Folge wurde sie von den Tätern verprügelt und so schwer verletzt, dass sie einige Tage später an den Folgen starb. Im Internet löste der Fall der mutigen jungen Frau Mitgefühl und Solidarität, aber auch wütende Selbstjustiz-Aufrufe aus.

Ähnliches geschah im Fall eines brutal verprügelten 13-jährigen Mädchens aus dem baden-württembergischen Tübingen. Nachdem das Video der Tat ins Internet und von dort auch in die Mainstream-Medien gelangte, riefen Internet-Nutzer dazu auf, die Täterin zu verprügeln und sogar zu foltern. Ihre Handynummer wurde im Internet veröffentlicht.

In beiden Fällen werden die Strafen für die Täter, unter anderem aufgrund ihres jugendlichen Alters, sehr wahrscheinlich nur gering ausfallen. Dies stachelt die Wut der Menschen zusätzlich an.

Risiken für die Verantwortlichen

Moralisch sind Aufrufe zur Selbstjustiz zweifellos fragwürdig. Darüber, ob das Gerechtigkeitsempfinden der Verantwortlichen richtiger liegt als das der offiziellen Stellen, ließe sich wohl endlos streiten. Davon abgesehen können entsprechende Aufrufe für die Verantwortlichen auch ernsthafte negative Folgen haben. Dieser Tatsache sind sich viele Internet-Nutzer nicht bewusst.

Einerseits besteht natürlich ein gewisses Risiko, dass die Gewaltspirale sich aufschaukelt und diejenigen, die zur Gewalt gegen den oder die Täter aufrufen, ihrerseits beleidigt und bedroht werden. Daneben können die zur Selbstjustiz Aufrufenden aber durch ihr Handeln auch mit dem Gesetz in Konflikt kommen. In Deutschland hat der Staat das Gewaltmonopol. Strafen für Fehlverhalten aussprechen dürfen nur die Gerichte. Wer zur Selbstjustiz aufruft, verstößt gegen diese Grundsätze und macht sich damit selbst strafbar.

So sieht die Polizei auch im bereits erwähnten Fall der von Mitschülerinnen verprügelten 13-Jährigen den Anfangsverdacht einer Straftat bei denjenigen, die zur Selbstjustiz gegen die Täterinnen aufrufen. Diesen drohe eine Geldstrafe oder eine bis zu dreijährige Freiheitsstrafe, erklärte Polizeisprecherin Andrea Kopp. Dies gibt auch für andere, ähnliche Fälle einen Hinweis auf das zu erwartende Strafmaß - und sollte Menschen dementsprechend dazu bringen, zwei mal über entsprechende Postings nachzudenken.

Anonym im Internet?

Viele Menschen, die im Internet problematische Kommentare schreiben - darunter wohl auch viele, die zur Selbstjustiz gegen Straftäter aufrufen - verlassen sich auf ihre Anonymität. Diese kann jedoch ein trügerischer Schutz sein.

Bei vielen Diskussionsforen und Kommentar-Plattformen ist nicht nur die zur Anmeldung angegebene E-Mail-Adresse hinterlegt. Häufig wird auch die IP-Adresse der Besucher - eine vom Internet-Dienstleister vergebene einmalige Adresse des mit dem Internet verbundenen Computers - gespeichert. Für die Behörden ist es zumindest bei deutschen Internet-Plattformen im Falle eines begründeten Tatverdachts ein Leichtes, die Herausgabe dieser Daten zu erwirken. Die IP-Adresse des problematischen Kommentars kann die Polizei dann dem zuständigen Internet-Dienstleister zum Vergleich vorlegen. Häufig weiß dieser noch, welchem Kunden diese Adresse zum fraglichen Zeitpunkt zugeordnet war. Zwar werden entsprechende Daten seit der Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland im März 2010 nicht mehr grundsätzlich und längerfristig archiviert. Viele Provider speichern sie aber dennoch aus technischen Gründen oder zu Abrechnungszwecken zumindest für einen kürzeren Zeitraum. Dadurch lassen sich Menschen, die im Internet zur Selbstjustiz aufrufen, häufig identifizieren und zur Rechenschaft ziehen.

Postings, die zu Straftaten - wozu auch Selbstjustiz in Deutschland zählt - aufrufen, sind also äußerst riskant für die Verantwortlichen. Trotz alles berechtigten Zorns auf die Täter sollte also auch hier der Grundsatz gelten, gründlich nachzudenken, bevor etwas ins Internet gestellt wird.

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