Wer Geparde erforschen will, der muss schnell sein. Kaum jemand weiß das so gut wie Bettina Wachter. Die Kälte der Nacht steckt Mensch und Tier noch in den Knochen, als die Evolutionsbiologin ihren Geländewagen an einem Morgen im Mai durch den namibischen Busch lenkt. Kurz zuvor ist ein Gepard in die Falle getappt, das zweite Männchen innerhalb kurzer Zeit. Wachter und ihre Kollegen vom Berliner Leibniz Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) wollen die Raubkatzen nicht lange warten lassen. Bis die Mittagssonne brennt, wollen sie beide Gepardenbrüder untersuchen, mit GPS-Halsbändern ausstatten und anschließend wieder in die Wildnis entlassen.
Seit knapp zwanzig Jahren schon untersucht das Team um Wachter das Verhalten, die Ökologie, den Gesundheitsstatus und die Reproduktion der Geparde, der seltensten Großkatze in Afrika. Die Spezies steht auf der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation IUCN, Status: gefährdet. Auf dem gesamten Kontinent gibt es nur noch knapp 7100 Exemplare. Rund ein Fünftel davon lebt in Namibia.
Der Gepard ist ein hoch spezialisierter Jäger, alles an ihm ist auf Schnelligkeit getrimmt: Seine Krallen sind dauerhaft ausgefahren, wie Spikes an den Schuhen von Leichtathleten verhelfen sie ihm zu einer höheren Geschwindigkeit. Sein Körperbau gleicht dem eines Windhundes; mit maximal 60 Kilogramm ist er ein Leichtgewicht. All das macht ihn zum schnellsten Säugetier der Welt. Für diese rekordverdächtige Spezialphysis zahlt der Gepard jedoch einen Preis. Anderen Raubtieren wie Löwen, Leoparden und Hyänen ist er körperlich gnadenlos unterlegen. „Als ob ein 100-Meter-Sprinter gegen einen Schwergewichtsboxer antritt", sagt Wachters Kollege Jörg Melzheimer, „keine Chance." Wenn ein Gepard auf einen Leoparden trifft, endet die Begegnung für Ersteren häufig tödlich.
Der Gepard hat sich deshalb seine Nischen gesucht. In Schutzgebieten findet man ihn kaum noch, hier regieren seine stämmigen Konkurrenten. Stattdessen hat sich ein Großteil der verbliebenen Geparde auf Farmland verzogen - nicht selten zum Unmut der Besitzer.
Denn dass die Population seit Jahrzehnten abnimmt, liegt auch am alten Konflikt zwischen Mensch und Raubtier. Auf der einen Seite sind da die Geparde, die auf der Suche nach Beute immer wieder Kälber reißen. Auf der anderen Seite stehen die Farmer, die diese Verluste nicht länger hinnehmen wollen. Einige hatten nach eigenen Angaben in der Vergangenheit jährlich bis zu 30 Prozent ihres Kälbernachwuchses an die Raubtiere verloren. In der Folge wurde der Jäger zum Gejagten, Farmer haben Geparde gefangen und erschossen. Wie viele Tiere auf diese Weise getötet wurden, das kann Wachter nicht genau sagen. Illegal waren die Abschüsse auf privatem Farmland nicht.
Das Misstrauen gegenüber den Geparden-Forschern war bei den Farmern zu Beginn noch da. „Es war verzwickt", sagt Wachter, „wenn ein Gepard tot war, kam kurz darauf einfach der nächste und hat das Revier übernommen." Der Bestand der Kälber schwand weiter, der Bestand der bedrohten Geparde ebenso. Diesen Teufelskreis wollten die Forscher durchbrechen. Dafür waren sie jedoch auf die Hilfe der Farmer angewiesen. „Wo die Geparde sich aufhalten und wie man sie fängt, das wussten die Farmer aus eigenem Interesse natürlich am besten", sagt Wachter. Das Tückische: Mit Fleisch lassen sich Geparde nicht ködern. Im Gegensatz zu Löwen oder Leoparden fressen sie nur frisch erlegte Beute. Allerdings war den Farmern seit Generationen bekannt, dass die Raubkatzen immer wieder zu sogenannten Spielbäumen zurückkehren, um Duftmarken, Kot und Kratzspuren zu hinterlassen. Stellt man dort Fallen auf, tappen die Raubkatzen früher oder später hinein.
Althergebrachtes Farmerwissen, sagt Heiko Freyer. Nahe der Hauptstadt Windhoek züchtet der Deutsch-Namibier auf 16.000 Hektar Rinder. Durchschnittlich 800 Bullen und Kühe hält er auf seiner Farm, in guten Regenzeiten mehr, in Trockenphasen weniger. In manchen Jahren hat er bis zu 35 seiner Kälber an Raubtiere verloren. „Wenn ein Kalb gerissen wird, dann bleibt nicht viel übrig - wenn man überhaupt etwas findet." Spätestens beim Zusammentreiben der Herde habe er bemerkt, wenn Tiere fehlten. Dass es Geparde waren, konnte er nur vermuten. Schließlich sehe man die scheuen Tiere nur selten und eher zufällig, selbst in der Nähe ihrer Spielbäume. „Wissenschaftliche Daten, auf die wir uns verlassen konnten, hatten wir nicht", sagt Freyer. Also schlossen Wachter und ihr Team einen Deal mit Rinderfarmern wie Freyer: Wenn ihr uns die Spielbäume zeigt, geben wir euch später auch unsere Daten.
Auch die Gepardenbrüder, die an diesem Morgen besendert werden sollen, haben die Forscher auf diese Weise gefangen. Sie harren in Fallen unterhalb eines Kameldornbaums aus. Es ist kurz vor neun, als die Tierärztin Rebekka Müller den ersten Gepard durch die Gitter hindurch betäubt. Kurz darauf liegt er auf einem Behandlungstisch mitten im Busch. Etwa eine Stunde bleibt den Forschern, bis die Narkose nachlässt und die Raubkatze wieder aufwacht. Wachter und die Tierärztin nehmen die Proben: ein paar Röhrchen Blut, etwas Fell, Spermien, Kot. Der Techniker legt dem Gepard derweil ein GPS-Halsband um, anschließend injiziert er ihm einen Chip in den Rücken. So können die Wissenschaftler gleich mehreren Fragen auf den Grund gehen: Wie widerstandsfähig ist das Immunsystem der Geparde? Wo halten sie sich auf? Und: Wie kommunizieren sie untereinander?
Verräterische Duftmarken dominanter Männchen
Etwa 300 Geparde haben die Forscher vom Leibniz-IZW im Laufe der Zeit mit Sensoren ausgerüstet und jeweils zwei Jahre lang verfolgt. Bewegt sich das Tier, zeichnet das GPS-Halsband alle 15 Minuten seine Position auf. Ruht der Gepard, schaltet auch das Gerät in den Energiesparmodus. Um die Daten abrufen zu können, müssen sich die Forscher dem Gepard bis auf wenige hundert Meter nähern. Am besten gelingt das in einem Kleinflugzeug. Der Aufwand ist groß, die Kosten hoch.
Ihre Ergebnisse haben die Mitarbeiter des Leibniz-IZW im Dezember vergangenen Jahres in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht. Sie zeigen, wie ausgefeilt das Kommunikations- und Revierverhalten der Raubkatzen ist. So wählen sie ihre Spielbäume nicht etwa zufällig aus. „Die Entfernung zwischen diesen Hotspots oder Kommunikationszentren beträgt immerzu 23 Kilometer", sagt Wachter. Wie in einem gleichmäßigen Netzwerk liegen diese Knotenpunkte über dem namibischen Farmland. Wachters Kollege Melzheimer vergleicht diese Knotenpunkte mit Szenebars. Es gehe darum, sich zu zeigen, potentielle Partner zu finden - und darum, die Hierarchie zu klären. Dominante Männchen, die das Revier besetzen, hinterlassen dort regelmäßig Duftmarken.
Die gewünschte Nachricht an nicht territoriale Besucher: Hier gibt es nichts zu holen, das Gebiet ist besetzt. Allerdings bleibt auch bei Nachrichten im Tierreich die Selbstoffenbarung nicht aus: „Die nicht territorialen Männchen riechen genau, wenn ein Revierbesitzer schwächelt - etwa, weil er an einer Infektion leidet", so Melzheimer. Sie wittern buchstäblich ihre Chance. In der Folge kommt es mitunter zu Revierkämpfen und -übernahmen.
Auf einer zweiten Kommunikationsschiene tauschen sich wiederum die Geschlechter untereinander aus. Sind sie paarungswillig, hinterlassen die Weibchen eine Duftmarke am Markierungsbaum. Danach heißt es: geduldig sein. Bis zu mehreren Tagen halten sie sich im Hotspot auf und warten auf ein Männchen, das auf ihr Signal reagiert. Durch Rufe etwa oder durch eine Antwort per Duftmarke am Spielbaum. „Ohne diese Austauschmöglichkeiten wäre es sehr unwahrscheinlich, dass Männchen und Weibchen aufeinandertreffen würden", sagt Melzheimer.
Dass nicht alle männlichen Geparde ein eigenes Revier besitzen, hatte der Biologe Tim Caro bereits in den Neunzigerjahren bei seinen Forschungsarbeiten im Serengeti-Nationalpark in Tansania herausgefunden. Er unterschied zwischen dominanten Revierbesitzern und sogenannten Floatern - schwächeren Gepardenmännchen, die auf der Suche nach vakanten Territorien beachtliche Distanzen zurücklegen. So umfasst das Territorium eines Revierbesitzers in Namibia im Durchschnitt rund 380 Quadratkilometer. Die nichtterritorialen Männchen durchstreifen dagegen Gebiete von bis zu 1595 Quadratkilometern, von Hotspot zu Hotspot. Der Begriff „floating" - englisch für schweben, gleiten, sich treiben lassen - sei deshalb irreführend, sagt Melzheimer. „Unsere Daten zeigen, dass die nichtterritorialen Männchen keineswegs zufällig, sondern sehr gezielt von einem Kommunikationszentrum zum nächsten ziehen." Die Gebiete zwischen den Hotspots seien dagegen weder für Revierbesitzer noch für nichtterritoriale Männchen sonderlich interessant.
Mit diesem Wissen lag die Lösung des Konfliktes zwischen Mensch und Raubtier in greifbarer Nähe. Wenn die Farmer ihre Kälber fortan fernab der Hotspots der Geparde weiden lassen würden, so die Annahme der Forscher, könnten sie ihre Verluste verringern. Bevor sie dies belegen konnten, stießen sie aber auf Skepsis. „Wenn wir die Kälber woanders halten, dann werden die Geparde ihrer Beute doch einfach folgen", wandten einige Farmer ein. Zu verlieren hatten sie jedoch nichts. Die darauffolgenden Experimente zeigten, dass die Geparde ihren Kommunikationszentren tatsächlich treu bleiben. Die Kälber waren schnell vergessen, die Geparde wichen schlichtweg auf andere Beute aus: Kuhantilopen, Springböcke, Oryx, Warzenschweine. Um bis zu 86 Prozent konnten die Farmer ihre Verluste verringern. Bei der Wahl eines Hotspots sei den Geparden nur ein Parameter wichtig, sagt Melzheimer, nämlich die Entfernung zu den benachbarten Hotspots. „Wir wissen jetzt, dass es keine Problemtiere gibt", sagt Melzheimer, „sondern Problemgebiete."
Mit mehreren hundert namibischen Farmern steht das Team inzwischen im Austausch. Auch Heiko Freyer schätzt das neu gewonnene Wissen. Was er anstrebt, sagt der Rinderfarmer, sei letztlich ein friedliches Zusammenleben mit sämtlichen Arten - keine „sterile Landwirtschaftsfabrik", die nur Nutztieren Platz bietet. „Die Raubtiere waren immer hier und Teil des Lebens in Namibia - schon lange, bevor wir hier gewirtschaftet haben."
Ist damit der Konflikt zwischen Mensch und Tier gelöst und der Gepard gerettet? Zu hundert Prozent werde das wohl nie gelingen, sagt Melzheimer: „Verluste wird es immer geben, das lässt sich nicht vermeiden." Zwei, drei Kälber im Jahr, das sei für die meisten Farmer jedoch akzeptabel. Im nächsten Schritt wollen er und seine Kollegen ihr Wissen auch auf Farmen in anderen Ländern Afrikas anwenden und verbreiten. Denn die Kommunikationsstrategie der Geparde sei überall gleich, vom Süden bis in den Osten Afrikas.
Einige Entwicklungen aber bereiten Melzheimer nach wie vor Sorgen. Da seien zum Beispiel ausländische Investoren, die - anders als traditionelle Farmer wie Freyer - hohe Wildtierzäune um ihre Ländereien errichten lassen. „Solche Barrieren zerstören das Netzwerk der Geparde natürlich sehr schnell", sagt Melzheimer. Und auch die Rückkehr eines alten Konkurrenten beschäftigt die Forscher. Seit einigen Jahren sichten die namibischen Farmer wieder mehr und mehr Leoparden auf ihren Ländern. Warum sie genau jetzt zurückkehren, das sei die große Frage. „Die Farmer haben nun aufgehört, die Geparde zu erschießen", sagt Wachter, „die Entwicklung der Nutztierpopulation können wir wegen der neuen Bedrohung durch die Leoparden trotzdem nur schwer voraussagen."
Die Hitze hat sich bereits über das Farmland gelegt, als auch der zweite Gepard aus der Narkose erwacht und nach seinem Verbündeten ruft. Es ist ein Geräusch, das nicht so recht zu einem Raubtier passen will: zart und zerbrechlich, kaum zu unterscheiden von einem Vogelzwitschern. „Spätestens in der Nacht werden sie sich wiederfinden", sagt Wachter. Gemeinsam mit der Tierärztin baut sie die improvisierte Praxis im Busch ab. Röder, der Techniker, bereitet währenddessen die Fallen am Gepardenbaum für den nächsten Fang vor.
Schon bald werden die Forscher die Bewegungsdaten der Gepardenbrüder auswerten. Obwohl sie noch jung und schmächtig sind, könnte das Revier um den Spielbaum fortan ihnen gehören. Einer der vorherigen Besitzer, ebenfalls Teil einer Koalition, ist seit Wochen vom Radar der Forscher verschwunden. Nun muss der Verbliebene sein Revier alleine verteidigen. „Er ist schon alt, gegen die Jüngeren wird er im Falle eines Kampfes nur geringe Chancen haben." Für die Brüder wäre es ein schneller Aufstieg in der Gepardenhierarchie, von Treibenden zu Revierbesitzern. Für die Forscher vom Leibniz-IZW und die namibischen Farmer ein weiteres Puzzlestück, das sich Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammensetzt. „Man muss nur die richtigen Fragen stellen", sagt Wachter, „dann macht irgendwann alles Sinn."