Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 24/2022.
Es gibt eine kleine Anekdote über Sinead O'Brien, die schon vieles enthält, was man über die Herangehensweise der irischen Musikerin an Leben und Kunst wissen muss. In dieser Anekdote ist O'Brien ziemlich sauer - oder wenigstens verständnislos - über das kuschelige kleine Wort cozy. Irgendjemand hatte das Café, in dem die Musikerin vor Kurzem vom britischen New Musical Express interviewt wurde, bei Google Maps mit diesem Etikett versehen. Es gebe wenige Worte und Gefühle, die sie mehr verabscheue, sagte O'Brien daraufhin. "Ich will es nicht gemütlich haben. Ich will durchgeschüttelt werden."
Auch als Beschreibung für ihre Musik ist das sehr passend: Denn die Songs auf O'Briens Debütalbum Time Bend and Break the Bower, das nun nach einer Reihe von Singles und EPs erscheint, sind nicht warm und behaglich, auch nicht melodisch im klassischen Sinne, sondern tasten sich mit einer aufregenden Mischung aus Slam-Poetry und Post-Punk-Gitarren in unbekannten, dunklen Räumen voran. Man hört dieser Musik an, dass O'Brien viel Frank O'Hara, W.B. Yeats, Joan Didion und Albert Camus gelesen hat. Das aber offenbar mit den Augen oder wenigstens dem Mindset von Mark E. Smith, dem einstigen Sänger der Band The Fall. Wie schon Smith singt auch O'Brien nicht auf herkömmliche Weise, sondern trägt mit ihrem irischen Akzent Gedanken, Beschwerden und Wortkaskaden vor.
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Ganz neu ist das nicht. Druckvolle Spoken-Word-Vocals sind im britischen Pop schon lange beliebt: Man denke an Bands und Künstler wie The Streets, Sleaford Mods oder Kae Tempest. Zuletzt experimentierten auch junge Post-Punk-Gruppen wie Squid, Dry Cleaning oder Wet Leg damit. Für die Art von Popmusik, die O'Brien macht - superstylish und surreal -, ist es aber doch einzigartig. Ihre oft roh gerufenen Songtexte sind kleine, kluge Gedichte für unsere Gegenwart. Vielfältig interpretierbar, poetisch, bildstark. Überall kann man in ihnen drängende Themen der Zeit erkennen: Identität, Sexualität, Religions- und Konsumkritik, die Umstände kreativer Arbeit und die drohende Apokalypse.
Um was es aber in den so präzise wie druckvoll vorgetragenen Songs genau geht, wird nie ganz klar. O'Briens Songs öffnen stattdessen einen riesigen Interpretationsraum. Mal klingen ihre Texte wie Monologe, mal wie feministische Statements, mal wie Rollenspiele. Ihre beiden Bandmitstreiter Julian Hanson und Oscar Robertson spielen dazu an Gitarre und Schlagzeug einen Post-Punk- und New-Wave-Sound, der gläsern und metallisch zugleich klingt, gespenstisch, aber immer tanzbar. Produziert wurde Time Bend and Break the Bower von Dan Carey, der zuletzt mit Kae Tempest und Fontaines D.C. zusammenarbeitete und mit seinem Indie-Label Speedy Wunderground einige der aufregendsten UK-Gitarrenbands der letzten Jahre herausgebracht hat.
O'Briens Musik wühlt auf und treibt an - wie neulich bei ihrem Auftritt in der BBC-Two-Kultsendung von Jools Holland. In einem aus Silberfäden gewebten Kleid stand die Künstlerin neben ihren Musikern und performte die spukhafte Lyrik ihrer von kühlen Gitarrenakkorden umnebelten Single Holy Country. Es geht in dem Song um Gedankenströme, deren Quellen O'Brien erst unter Steinen und schlammigen Böden freilegen muss. I have a soft fascination with these things, singt die Künstlerin - sie interessiere sich eben für so etwas. O'Brien sprach und flüsterte ihre Sätze in ein Vintage-Mikrofon, begann fast zu singen, setzte dann abrupte Pausen, um den Rest der Zeile geradezu auszuspucken. Ihre Bühnenpersona erschien nicht nur in diesem Moment wie eine Mischung aus Kate Bush und PJ Harvey.
O'Brien absolvierte an diesem Abend den besten Auftritt aller eingeladenen Musikgäste und unterstrich einmal mehr ihren Anspruch auf eine Rolle als zukünftige Stilikone. Auch in ihren Videos ist sie immer in todschicken Outfits zu sehen. In Abendkleidern und Ledermantel, mit Sonnenbrille und armhohen Handschuhen inszeniert sie sich als coolest person in the room. Die Texturen der Stoffe schimmern dazu in grellem Licht und zwischen schnellen Schnitten. Dabei sieht O'Brien nicht nur aus wie eine geupdatete Achtzigerjahre-Ikone, sondern ist auch selbst gelernte Modedesignerin. Aufgewachsen in einer Vorstadt von Limerick, studierte sie später in Dublin und arbeitete für die Modehäuser John Galliano in Paris und Vivienne Westwood in London, wo sie immer noch wohnt. Zur Musik fand sie erst später und über einen Umweg: ihre Liebe zur Lyrik und zum Schreiben, das für sie zur täglichen Morgenroutine gehört - immer mit Musik im Hintergrund, wie sie in Interviews erzählt.
In chronologischer Reihenfolge entstanden so die Stücke ihres Albums. Jeder Song offenbart eine neue Bedeutungsschicht, die Kontexte für den nächsten eröffnet. O'Brien testet nach und nach ihre Gedanken, Stimmen und Erinnerungen aus. Sie befragt sich unerbittlich selbst. Ihre Sprache ist in Bewegung und fordert heraus. Ständig formt sie neue Antworten und Reaktionen auf die Welt, die sie umgibt. Man spürt dabei eine rebellische Teenagerin von früher, die neugierig ist auf alles Verbotene. Der Song Like Culture etwa erzählt von einer Selbstentdeckung auf der Tanzfläche, dem Beginn des Aufbegehrens und Begehrens: The room has absorbed us/ Eaten our bodies and consumed our minds. Die Künstlerin verschmilzt mit dem Moment.
Hier scheint O'Brien die Zeit zu überwinden, an anderer Stelle wird das Nachdenken darüber zum Leitmotiv ihres Albums. Wie eine riesige Uhr tickt sie über den Texten der Musikerin, als Freundin, Gegnerin und Taktgeberin zugleich. O'Brien streckt und verdichtet sie versuchsweise, verbiegt sie und legt sie in Schleifen. Ob es nun ein Grund zum Feiern oder zum Fürchten ist, wenn sie im bereits erwähnten Holy Country die giants of time besingt? O'Briens schleppender Sprechgesang verrät es nicht. Wäre ja auch zu gemütlich dann.
"Time Bend and Break the Bower" ist bei Chess Club erschienen.
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