Osnabrück. Verstörend und beklemmend ist die Inszenierung von Katja Brunners „Von den Beinen zu kurz" im Emma-Theater in Osnabrück. Am Samstagabend hatte es Premiere.
Das Verstörende ist, dass es keine Erlösung gibt. Der sexuelle Missbrauch ist bei Autorin Katja Brunner die scheinbare Normalität. Alle rechtfertigen das Verhältnis zwischen dem Vater und seiner „kleinen Prinzessin". Kein Therapeut und kein Polizist treten auf, um das Weltbild wieder zurechtzurücken. Stattdessen führt das Stück „Von den Beinen zu kurz" mitten in die traumatische Situation hinein.
Und geschieht das so, wie sich das Geschehen in einem Kopf abspielt, mit Brüchen und Vor- und Rückwärtssprüngen. Katja Brunner bekam für ihren irritierenden wie kraftvollen Theatertext 2013 den Mülheimer Dramatikerpreis. 21 Jahre alt war die Schweizer Autorin zu dem Zeitpunkt gerade mal.
Laura Linnenbaum macht in ihrer Inszenierung im Osnabrücker Emma-Theater daraus eine Ich-Sezierung, platziert in einem kühlen, silbern glänzenden Bühnenbild von David Gonter, das an einen OP-Saal erinnert. Damit knüpft er an die erste Szene von Brunners Text an, die mit „OP" betitelt und in der ein Ich jegliches Gefühl für seinen Körper verloren hat. Ein Gefühl, dass Missbrauchsopfer tatsächlich oft haben.
Linnenbaum und Dramaturgin Maria Schneider haben den Text zwar gekürzt und umgestellt. Doch die Idee der Ich-Operation greift diese Inszenierung auf, wenn sich die drei Schauspieler um einen riesigen, künstlichen Prinzessinnenkopf scharren, unter dem es im grotesker Verunstaltung nichts als Arme und keinen weiteren Körper gibt.
Stephanie Schadeweg, Dennis Pörtner und Gast-Schauspielerin Paula Thielecke agieren hervorragend als Schauspiel-Trio. Sie übernehmen wechselnde Rollen und Haltungen, sind mal Opfer, mal Täter und dann wieder nüchterne Kommentatoren. In Gefühle von Hektik und Wut brechen sie vor allem aus, wenn es gilt, ihren Feind von außen abzuwehren: diejenigen, die das Verhältnis von Vater und Kind nicht als Liebe, sondern als Verbrechen bezeichnen. In grotesker Verdrehung wird der Vater zum Opfer, dessen eigentlich „natürliche Triebe" nicht akzeptiert werden. „Das ist doch ganz normal", heißt es einmal im Text. Mantraartig schreien Schadeweg, Pörtner und Thielecke diesen Satz in einer Szene immer wieder raus.
Es gibt kein Mitleid und keine Erlösung für das eigentliche Opfer. Das macht dieses Stück so schwer ertragbar, verdeutlicht dabei aber eine bittere Wahrheit. Denn sexueller Missbrauch ist eines der häufigsten Gewaltverbrechen unserer Gesellschaft, oft vertuscht und verdrängt. So auch in diesem Text, in dem die Mutter wegguckt und in ihrer Tochter eine Konkurrentin statt ein Opfer sieht. Das Kind fühlt sich derweil schuldig am Leid seiner Familienmitglieder. Die kühle Atmosphäre dieses Horror-Szenarios wird auch durch Christoph Iaconos Musik unterstützt. Er bringt aber auch in pervertierender Romantik eine Ballade ein, ausgerechnet in einer Streichelzoo-Szene, in der das Kind selbst zum kleinen Tier wird.
Gar nicht so leicht, dieses beklemmende Stück wieder aus dem Kopf zu kriegen. Doch das ist auch gut so. Denn letztlich ist es eine wütende Anklage gegen ein zerstörendes Machtverhältnis, das so oft in unserer Welt vorkommt. Zu Recht hat die Inszenierung, die Brunners Text noch überspitzt, bei der Premiere eine langen, anerkennenden Applaus bekommen.