Anne Kratzer

Journalistin und Psychologin, Heidelberg

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Artikel

Modellbau-Affäre - Der Straftäter, ein Patient

Wie kann es sein, dass der Mörder und Modellbauer Roland S. unbewacht die Forensik verlassen durfte? Antwort: Das ist durchaus üblich. Unter welchen Umständen psychisch kranke Kriminelle die Klinik verlassen dürfen.

Auf den Fotos, die seit dem Wochenende mal mehr, mal weniger verpixelt in den Zeitungen zu sehen sind, sitzt ein Mann entspannt und heiter an einem Messestand in Frankfurt am Main. Links von ihm stehen ein paar gefüllte Weingläser, rechts von ihm steht Hubert Haderthauer. Der Mann ist Roland S., der begabte Modellauto-Bauer der Firma Sapor Modelltechnik. Aber eben auch: Roland S., der verurteilte Dreifachmörder, untergebracht seit Ende der Achtzigerjahre im Maßregelvollzug des Bezirksklinikums Ansbach.

Das Foto wurde Anfang der Neunzigerjahre aufgenommen. Wie es möglich war, dass Roland S. um die eigentlich sehr strengen Sicherheitsvorschriften der Ansbacher Forensik herumkam, ist unklar. Dass jedoch verurteilte, psychisch kranke Straftäter die forensischen Abteilungen verlassen dürfen, in denen sie untergebracht sind - das ist auch heute durchaus üblich.

Sicherung mit doppelter Aufgabe

Die Unterbringung im Maßregelvollzug ist mit gewöhnlichen Haftstrafen nicht gleichzusetzen. Sie hat eine doppelte Aufgabe: die Sicherung der Delinquenten und damit den Schutz der Allgemeinheit vor möglichen weiteren Straftaten - und die Therapie. Grundsätzlich gilt: Wer auf richterliche Anordnung in einer forensischen Abteilung untergebracht wird, darf die Einrichtung nicht auf eigenen Wunsch verlassen. Eine maximale Aufenthaltsdauer gibt es laut Paragraf 63 im Strafgesetzbuch im Maßregelvollzug nicht. Der Freiheitsentzug ist theoretisch nach oben offen, wenn von dem Täter weitere Straftaten und somit eine Gefährdung der Allgemeinheit zu erwarten sind. Doch eine Forensik ist trotz allem auch eine Klinik - und die hat die Aufgabe, die sehr verschiedenen Menschen zu heilen, die ihr überantwortet werden: von der Suchtkranken bis zum Gewaltstraftäter. Im Fall psychisch kranker Straftäter heißt das: Sie sind immer auch Patienten und sollen zu einem Leben in Freiheit befähigt werden.

Michael Wörthmüller ist Chefarzt der Forensik in Erlangen. Er sagt: "Dass die Patienten Lockerung bekommen, also in ungesichertes Gelände können und später auch die Klinik verlassen dürfen, ist ein fester Bestandteil der Therapie." So wird erprobt, ob sich ein Therapiefortschritt zeigt - und es ist eine Vorbereitung auf die Freiheit.

Damit die Rückführung ins eigenständige Leben gelingt, sei es wichtig, die Patienten mit der Realität zu konfrontieren. Sonst geht der Umgang damit womöglich verloren: "In der Klinik geben wir den Menschen ein neues System und daran passen sie sich an, sodass sie ihre Alltagskompetenzen verlieren können", erklärt Manuela Dudeck, Maßregelvollzugsleiterin der Forensik in Günzburg und Professorin für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Ulm. Es gibt also gute Gründe dafür, dass die meisten ihrer 116 Patienten Lockerungen genießen. Einige verlassen die Klinik täglich, um zu arbeiten.

Ist der Patient ein Sicherheitsrisiko?

Grundsätzlich gibt es in allen Kliniken in Bayern die gleichen vier Lockerungsstufen, A, B, C, und D und dazu noch verschiedene Zwischenstufen. Hat ein Patient die Erlaubnis für Stufe A, darf er in Begleitung eines Klinikmitarbeiters die Station verlassen, muss aber innerhalb der Klinikmauern bleiben. Hat er Stufe D erreicht, darf er sogar auswärts übernachten. Will ein Patient von einer zur anderen Stufe wechseln, stellt er einen Antrag. Daraufhin treffen sich alle Therapeuten, Pfleger und Ärzte, die den Patienten behandeln, und diskutieren über seinen Wunsch. Die Entscheidung liegt letztendlich beim Leiter der Maßregelvollzugsanstalt. Kommt es zu einem Wechsel in eine neue Hauptstufe, wird auch die Staatsanwaltschaft gefragt.

Wie die Kliniken entscheiden, wer welche Lockerung erhält, ist ihnen selbst überlassen, funktioniert aber überall ähnlich: Diskutiert wird anhand einer von der Klinik selbst erstellten Checkliste. "Grundlage für diese Entscheidung ist eine Prognose", sagt Michael Wörtmüller von der Erlanger Forensik. Ob der Patient ein Sicherheitsrisiko darstellt, wird ausgehend von verschiedenen Punkten ermittelt: dem Ausgangsdelikt, dem Lebenslauf des Patienten bis hin zur Tat, der Entwicklung danach und den sozialen Umständen, die den Patienten außerhalb der Klinik erwarten.

Dass ein Patient mehrere Morde verübt hat, wie im Fall von Roland S., heißt also nicht, dass er keine Chance auf Lockerung hat. Denn während der Mord als Teil der Biografie ein unveränderliches Risiko darstellt, gibt es auch sogenannte dynamische Risiken: solche, die sich durch die Therapie verändern können. "Natürlich fließt das Delikt in die Entscheidung mit ein. Aber wenn der Therapieerfolg die statischen Risikofaktoren, zu denen ein Delikt gehört, übersteigt, kann auch ein Mörder Lockerungsstufen bekommen und freigelassen werden", sagt Manuela Dudeck. Auch gebe es statistische Kennwerte, wie wahrscheinlich die Rückfälligkeit für bestimmte Straftaten ist: Die von Mord betrage null bis drei Prozent.

"Weg von Freiheit und hin zu mehr Sicherheit"

So halten es die beiden Ärzte nicht für unverantwortlich, dass Roland S. von Zeit zu Zeit freigelassen wurde. Wörthmüller meint jedoch: "Die damalige Situation ist nicht mit der heutigen vergleichbar. Es gab früher einen viel stärkeren Fokus auf Freiheit - und weniger klar strukturierte Vorgaben zur Vorgehensweise." Nicht zuletzt auch durch Druck seitens der Medien habe sich die Priorität verschoben: "weg von Freiheit und hin zu mehr Sicherheit".

Mittlerweile gebe es wieder Bestrebungen, mehr Wert auf die Freiheit der Patienten zu legen. Das ist verständlich, denn Lockerungen werden nur selten missbraucht. Das Sozialministerium, das den Maßregelvollzug überwacht, sieht die Häufigkeit von Straftaten während eines Ausgangs im Rahmen der Lockerungen im Promillebereich: 99,99 Prozent aller Lockerungsentscheidungen seien richtig. Und Manuela Dudeck sagt, die Rückfallquoten von Menschen, die aus der Forensik freigelassen werden, seien viel niedriger als zum Beispiel die von ehemaligen Insassen einer Justizvollzugsanstalt.


Von Kathleen Hildebrand und Anne Kratzer

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