Anne Kratzer

Journalistin und Psychologin, Heidelberg

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Märkte töten Werte

"Wenn Sie eine Hochzeitsrede für einen Freund nicht selbst schreiben, sondern maßgeschneidert im Internet kaufen, würden Sie ihrem Freund das sagen?", fragt der Philosoph Michael Sandel. Klar, dass das wohl niemand zugeben würde. Es würde den Wert der Rede reduzieren. Sandel formuliert das so: "Geld ruiniert etwas."

Sandel, einem der bekanntesten Philosophen unserer Zeit geht es bei diesem Vortrag unter dem Titel "Was man mit Geld nicht kaufen kann?" jedoch nicht um das Einzelbeispiel der Hochzeitsgesellschaft. Sandels Kritik liegt darin, dass immer mehr Dinge und Dienstleistungen unserer Gesellschaft „ein Preisschild aufgeklebt" bekommen - und damit entwertet werden. Der Markt erobere immer mehr gesellschaftliche Bereiche und das könne negative Konsequenzen haben. Die zentrale Behauptung der Ökonomen, nach der Märkte neutral sind, stimme nicht: "Märkte verändern Werte".

Geld kann Werte zerstören

Wie bei all seinen Vorträgen spricht der Harvardprofessor auch an diesem Freitag mit dem Publikum und nennt viele empirische Beispiele, wie sich Werte verändert haben, sobald dafür bezahlt wurde. In einem israelischen Kindergarten haben die Eltern ihre Kinder oft zu spät abgeholt. Daraufhin führten die Erzieher eine Gebühr fürs Zuspätkommen ein. Doch die Konsequenzen hatten sie sich anders vorgestellt: Die Eltern kamen jetzt noch später. Ihr schlechtes Gewissen reduzierte sich - sie hatten das Gefühl, für eine Dienstleistung zu bezahlen.

Schlimmere Folgen sieht Sandel bei der Öffnung des Marktes für menschliche Organe: "Aktuell sind die Wartelisten für eine Niere sehr lang, wenn wir den Markt öffnen und jeder seine Niere verkaufen kann - man hat ja zwei und braucht nur eine - können wir Anreize schaffen und es würden mehr Nieren frei. Wir könnten Leben retten!"

Flüchtlingsquoten sind Menschenhandel

Trotz dieser Verlockung ist ein Großteil des Kirchentags-Publikums gegen einen Organmarkt. Laut Sandel gibt es zwei große Argumente. Das der Gerechtigkeit: Arme wären gegenüber Reichen benachteiligt. Und das der Werte: "Man könnte seinen Körper als Ware sehen - das ist gegen die Menschenwürde."

Dass die Würde degradiert wird, fürchtet Sandel auch, wenn der aktuelle Vorstoß einiger Ökonomen Zustimmung findet: "Die EU diskutiert darüber, Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen einzuführen. Einzelne Ökonomen meinen, man könnte darüberhinaus einen Austausch einführen: Will ein Land seine Aufgabe nicht erfüllen, könnte es ein anderes dafür bezahlen, seine Flüchtlinge zu übernehmen." Klingt praktisch - bedeutet aber Menschenhandel.

Zeit als Ware

Seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den 70ern und 80er Jahren proklamiert hätten, der Markt allein sorge für Wohlstand, beobachte Sandel, wie immer mehr Bereiche, die eigentlich nicht verkäuflich sind, verkauft werden. Zeit zum Beispiel. Längst gibt es Agenturen, bei denen sich finanzkräftige Bürger einen Obdachlosen bestellen können, der sich dann für sie in eine Ticketschlange stellt und in Freizeitparks ermöglichen Schnelltickets, dass der Käufer direkt an der Schlange vorbei in die Achterbahn spazieren kann.

Gefährlich werde so eine vom Markt unterwanderte Gesellschaft deshalb, weil sie ethischen Fragestellungen verdrängt. Wer wie die israelischen Eltern bezahlen kann, muss die Arbeitszeiten der Kindergärtner nicht mehr ernst nehmen, wer wie beim Emissionshandel für seine Verschmutzung bezahlt, kann guten Gewissens CO2 in Luft pumpen und wer ein anderes Land dafür vergütet, seine Flüchtlinge aufzunehmen, braucht sich der anstrengenden und unangenehmen Diskussionen über deren Behandlung, Nächstenliebe, Solidarität und Verantwortung gar nicht erst zu stellen. Wenn aber der öffentliche Diskurs entfällt, haben die Werte einer Gesellschaft weniger Raum - und verschwinden irgendwann. Es geht Sandel also nicht um die vergleichsweise banale Frage, was man mit Geld nicht kaufen kann. Es geht darum, was wir nicht verkaufen dürfen.

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